Bundesarbeitsgericht

Stechuhr-Urteil: Arbeitszeiterfassung in Deutschland Pflicht

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Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt verhandelt über die elektronische Zeiterfassung. (Symbolbild)
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Vertrauensarbeitszeit oder die digitale Stechuhr – die Debatte um die Arbeitszeiterfassung ist schwer umstritten. Während die einen ihre Zeit lieber selbst organisieren, bedeutet die Vertrauensarbeitszeit für andere unbezahlte Überstunden.
Nun ist es höchstrichterlich entschieden: Nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) besteht in Deutschland eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung, über die in der Ampel-Regierung, in der Wirtschaft und unter Arbeitsrechtlern derzeit noch heftig diskutiert wird. Die Präsidentin des höchsten deutschen Arbeitsgerichts, Inken Gallner, begründete die Pflicht von Arbeitgebern zur systematischen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten am Dienstag in Erfurt mit der Auslegung des deutschen Arbeitsschutzgesetzes nach dem sogenannten Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs.

Stechuhr-Urteil: Arbeitszeiterfassung in Deutschland Pflicht

Fachleute rechnen damit, dass das BAG-Grundsatzurteil (1ABR 22/21) weitreichende Auswirkungen auf die bisher in Wirtschaft und Verwaltung tausendfach praktizierten Vertrauensarbeitszeitmodelle bis hin zu mobiler Arbeit und Homeoffice haben kann, weil damit mehr Kontrolle nötig ist. Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz müssen bisher nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht die gesamte Arbeitszeit.

Arbeitszeiterfassung: Worum geht der Fall aus NRW?

Die höchsten deutschen Arbeitsrichter befassten sich mit der Frage, ob Betriebsräte die Einführung eines elektronischen Systems zur Arbeitszeiterfassung verlangen können. Es geht damit um das sogenannte Initiativrecht der Arbeitnehmervertreter, das in vielen Fragen besteht, nicht aber bei technischen Einrichtungen, die auch zur Überwachung von Arbeitnehmern genutzt werden könnten. Hier haben sie nach dem Betriebsverfassungsgesetz ein Mitbestimmungs-, quasi ein Abwehrrecht im Interesse ihrer Kollegen. In der Regel ergreifen Arbeitgeber die Initiative, um elektronische Zeiterfassungssysteme in Unternehmen, Büros oder Verwaltungen zu etablieren.

Nicht so in dem Fall aus einer sozialen Einrichtung in Nordrhein-Westfalen. Deren Betriebsrat hat sich bis zur dritten und letzten Arbeitsgerichtsinstanz in Erfurt geklagt, weil er höchstrichterlich festgestellt haben will, „dass für ihn ein Mitbestimmungsrecht zur initiativen Einführung einer elektronischen Zeiterfassung besteht“. Kurz bedeutet das: Dass er eine digitale Stechuhr verlangen kann.

Dem Betriebsrat geht es dabei nicht um Überwachung, sondern um die Dokumentation von Überstunden der Arbeitnehmer. Schließlich könnten auch sie ein Interesse an einer elektronischen Zeiterfassung haben, „gerade wenn es um die genaue Erfassung von Arbeitszeit und Überstunden“ gehe.

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Ampel-Koalition prüft Änderung des Arbeitszeitgesetzes

Das Thema Arbeitszeiterfassung wird nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) derzeit in der deutschen Wirtschaft und Verwaltung viel diskutiert. Danach müssen Arbeitgeber die Dokumentation von Arbeitszeiten ermöglichen.

Zudem prüft die Ampel-Koalition eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP heißt es: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“

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Brisant: Konträre Entscheidungen aus Vorinstanzen

Das Arbeitsgericht hat den Antrag des Betriebsrats abgewiesen – das Landesarbeitsgericht Hamm billigte ihm dagegen ein Initiativrecht für ein elektronisches Zeiterfassungssystem zu. Nun sind die Bundesarbeitsrichter am Zuge – es geht darum, ob sie ihre bisherige Rechtsprechung bestätigen oder ändern.

„Die Frage ist: Kann ein Betriebsrat verlangen, dass die Arbeitszeit eines Arbeitnehmers elektronisch erfasst wird, auch wenn der Arbeitgeber und vielleicht auch der Arbeitnehmer das gar nicht wollen?“, sagt der Bonner Arbeitsrechtsprofessor Gregor Thüsing. Das Mitbestimmungsrecht sei geschaffen worden, „um Überwachung einzuschränken, nicht um sie zu erweitern. Ich bin gespannt auf die Entscheidung.“ Kontrolle stehe Vertrauensarbeitszeitmodellen entgegen. Und es gebe ja andere, bewährte Wege, Überstunden zu dokumentieren, so Thüsing.

Das Urteil wird von vielen Arbeitnehmern sowie Arbeitgebern erwartet. Es hätte jedenfalls „weitreichende Konsequenzen für die Arbeitszeitmodelle“, so auch Fachanwalt Michael Kalbfus von der Kanzlei Noerr in München. (jaw/dpa)

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