Viele Fehltage wegen „Blaumachen”?
Warum melden sich so viele Menschen in Deutschland krank? Ärztepräsident kennt die Gründe
Neuer Befund zum Rekordkrankenstand in Deutschland!
Warum melden sich in Deutschland mehr Menschen krank als in anderen Ländern? Die Forderung nach einem Karenztag gegen das „Blaumachen” rückt die vielen Fehltage in den Fokus. Doch die Gründe liegen woanders. Ist vielleicht sogar Corona an den vielen Krankheitstagen Schuld? Wir haben bei Arzt Dr. Christoph Specht nachgefragt. Seine Einschätzung gibt’s im Video.
Hoher Krankenstand aufgrund von „Blaumachen”? Falsch!
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland im Jahr 2023 durchschnittlich 15,1 Arbeitstage krankgemeldet. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) stellt in einer Erhebung fest, dass sich die Kosten für die Entgeltfortzahlung zuletzt innerhalb von 14 Jahren verdoppelt hätten. Zuletzt forderte sogar der Chef der Allianz-Versicherung, Oliver Bäte: „Ich schlage vor, den Karenztag wieder einzuführen. Damit würden die Arbeitnehmer die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen.“
Lese-Tipp: Kein Geld mehr am ersten Krankheitstag
Auf diese Weise könnten Arbeitnehmer vom „Blaumachen” abgehalten werden. Doch das ist laut Bundesärztekammer und einer neuen Studie zufolge gar nicht der Grund für die vielen Krankmeldungen.
Stattdessen seien es die neue digitale Krankmeldung und verstärkte Infektionen. Ärztepräsident Klaus Reinhardt sagte in Berlin, es komme nach seiner Einschätzung „nicht in großem Stil vor”, dass Menschen nur krank spielten. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland 2023 durchschnittlich 15,1 Arbeitstage krankgemeldet.
Bei den Fehltagen gab es erstmals von 2021 auf 2022 einen sprunghaften Anstieg, und zwar um fast 40 Prozent, wie die neue Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit zeigt. Reinhardt erläuterte, in der Statistik seien die Krankschreibungen mit Einführung der elektronischen Krankschreibung (eAU) 2021 auf einen Schlag in die Höhe gegangen. Sie ersetzt den „gelben Schein” vom Arzt, die Krankschreibung auf Papier.
Mehr Meldungen bei den Krankenkassen und Corona-Nachwirkungen
Heute gebe es eine Erfassung sämtlicher Krankschreibungen zu 100 Prozent, so der Ärztepräsident. „Die hatten wir bis zur Einführung der eAU nicht, weil der Versicherte (...) den Zettel, der an die Krankenkasse ging, häufig gar nicht weggeschickt hat, sondern nur den, der an seinen Arbeitgeber ging.”
Laut der DAK-Studie zum deutschen Rekordkrankenstand beträgt der Meldeeffekt – je nach Diagnose – rund 60 Prozent und mehr. Die Erhebung liegt der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vor. „Ein Drittel der zusätzlichen Fehltage ergibt sich seit 2022 zudem durch verstärkte Erkältungswellen und Corona-Infektionen”, so die DAK-Gesundheit weiter.
Das beobachtet auch Reinhardt aktuell in einer Bielefelder Stadtteilpraxis, in der er seit seiner Amtsübernahme bei der Kammer in der Regel nur noch einmal die Woche arbeitet. Von seinem Einsatz in dieser Woche berichtete er: „Da waren richtig viele Menschen.”
Mehr Vorsicht bei Infektionen
Darunter seien viele gewesen, „die eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung brauchten aufgrund eines relativ banalen Effektes”. Die Patientinnen und Patienten seien deshalb am ersten Tag gekommen, „weil das die Arbeitgeber entsprechend verlangten”. Dieser Effekt sei „künstlich gemacht”, sagte Reinhardt. Insgesamt gingen viele auch bei Bagatellerkrankungen zum Arzt. Viele Firmen verlangten eine Bescheinigung von dort schon am ersten Krankheitstag, meinte Reinhardt.
Lese-Tipp: Was darf ich eigentlich, wenn ich mich bei der Arbeit krankgemeldet habe?
Laut Reinhardt ist zudem festzuhalten, dass sich seit der Corona-Pandemie mehr Menschen generell bei Infekterkrankungen krankschreiben ließen. „Der Aspekt des Nichtansteckens hat eine andere Qualität gewonnen in den zwei, drei Jahren des Lockdowns und der Infektionsvermeidung.”
Weise ein Unternehmen besonders hohe Krankenstände auf, „muss man ins Unternehmen gehen und gucken, wie die Unternehmenskultur ist”, sagte Reinhardt weiter. „Vor dem rein ärztlichen Hintergrund würde man sagen: Wenn jemand krank ist, ist er krank. Wenn er nicht arbeitsfähig ist, dann ist er nicht arbeitsfähig.” (dpa/lkö)