Strategisches Ziel im Ukraine-Krieg?
Feuer in Kernkraftwerk Saporischschja: Was Sie über Europas größtes AKW wissen müssen
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Das Kernkraftwerk Saporischschja, das nach dem Beschuss durch russische Truppen in Brand geriet, ist das größte Atomkraftwerk (AKW) in Europa. Es liegt nahe Enerhodar im Südosten der Ukraine am Fluss Dnepr. Die namensgebende Großstadt Saporischschja liegt rund 50 Kilometer nordöstlich. Für Russland ist das AKW von großem strategischem Wert, da es nur rund 200 Kilometer von der Halbinseln Krim entfernt ist, die Russland 2014 annektiert hatte.
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Die vier Atomkraftwerke der Ukraine produzieren die Hälfte des Stroms
In der Ukraine existieren vier AKWs mit insgesamt 15 Atommeilern. Zusammen produzieren sie in Friedenszeiten rund die Hälfte des ukrainischen Stroms. Sechs Meiler gehören zum AKW Saporischschja, das etwa ein Fünftel der Stromversorgung des Landes ausmacht. Der erste der Blöcke russischer Bauart ging im Jahr 1984, der letzte 1995 ans Netz. Jeder hat nach Angaben der der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA eine Kapazität von 950 Megawatt, insgesamt also 5,7 Gigawatt.
Derzeit ist nur ein Teil der Anlage im regulären Betrieb. Laut IAEA-Unterlagen ist Meiler 1 abgeschaltet. Meiler 2 und 3 sind vom Netz genommen worden, die Kernspaltung wird gerade heruntergefahren. Meiler 4 produziert Strom mit einer Kapazität von 690 Megawatt. Meiler 5 und 6 werden den Angaben nach heruntergefahren. Nach Angaben der Atomenergiebehörde wird zum ersten Mal in einem Land Krieg geführt, das über eine umfangreiche Atomenergiestruktur verfügt.
Keine unmittelbare Atomunfall-Gefahr nach Brand in AKW Saporischschja
Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) sieht nach dem Brand auf der Atomanlage keine unmittelbare Gefahr eines Atomunfalls. Zwar sei das Gelände laut der ukrainischen Aufsichtsbehörde von russischen Truppen umstellt oder besetzt, sagte GRS-Abteilungsleiter Sebastian Stransky der Deutschen Presse-Agentur. Die Betriebsmannschaften würden jedoch in ihrem regulären Betriebsmodus arbeiten. "Zum jetzigen Zeitpunkt ist das Kraftwerk laut Aufsichtsbehörde in sicherem Zustand und wird entsprechend den Betriebsvorschriften durch die Betriebsmannschaft betrieben." Dies habe die Behörde auch der IAEA gemeldet.
Das Trainingszentrum, in dem ein Brand gemeldet worden war, befinde sich auf dem Gelände des Standortes in größerer Entfernung zu den Reaktoranlagen, erklärte die GRS. Außerdem sei in der Nacht auf Freitag auf ein Nebengebäude des Kraftwerkblockes 1 geschossen worden. Es habe einen Treffer abgekommen und sei beschädigt worden. Sicherheitsrelevante Teile seien aber nicht betroffen. Die Leistung von Block 4 – zurzeit als einziger am Netz – sei wahrscheinlich aufgrund des aktuell geringeren Strombedarfs in der Ukraine etwas gedrosselt worden.
Bei den Kämpfen nahe Saporischschja wurde nach Erkenntnissen der IAEA zunächst keine erhöhte Strahlung gemessen.
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Saporischschja mögliches strategisches Ziel im Hinblick auf Energieversorgung
Nuklearexperte Matthias Englert nennt den Angriff auf das AKW Saporischschja "besorgniserregend". Zwar hält er es für unwahrscheinlich, dass "das radioaktive Inventar eines Kernkraftwerks als Mine" benutzt wird. Dies gelte sowohl für Russland als auch für die Ukraine. "Das würde ja für niemanden Sinn machen." Aber die Anlage könne ein strategisches Ziel im Hinblick auf die Energieversorgung sein. "Wer die Kontrolle über das Kraftwerk hat, kann die Energiezufuhr in das Stromnetz kontrollieren", erläutert Englert.
Experte: Sicherheit für Atomkraftwerk Tschernobyl nicht garantiert
Das stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl rund 100 Kilometer nördlich von Kiew hatten die russischen Streitkräfte bereits kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine unter ihre Kontrolle gebracht. Dort war es am 26. April 1986 zur schlimmsten Katastrophe bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie gekommen. Nach der Explosion eines Reaktorblocks des Atomkraftwerks verteilten sich radioaktive Stoffe über weite Teile Europas.
"Den sicheren Weiterbetrieb der Kraftwerke auch im Stillstand zu garantieren", hält der Experte für schwierig. "Das Personal muss auf die Schaltwarten gebracht werden, es müssen regelmäßig Sicherheitsüberprüfungen stattfinden, es müssen Ersatzteile gebracht werden. All das ist unter den Bedingungen eines Angriffskrieges extrem erschwert, wenn nicht sogar unmöglich." Matthias Englert fügt an: "Das Problem bei allen nukleartechnischen Unfällen ist, dass es zu unvorhergesehenen Verkettungen von ungünstigen Umständen kommt, die dann zu einem Unfall führen können." (bst)
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