Polizeipräsident zu Missbrauchskomplex Wermelskirchen"Menschenverachtende Brutalität gegenüber kleinen Kindern"

„Ich bin erschüttert und fassungslos“ – Kölns Polizeipräsident Falk Schnabel ringt um Worte. „Ein solches Ausmaß an menschenverachtender Brutalität und gefühlloser Gleichgültigkeit gegenüber kleinen Kindern, ihren Schmerzen und ihren Schreien ist mir noch nicht begegnet“, sagt er. Es geht um den neu aufgedeckten Missbrauchskomplex Wermelskirchen. Bei einer Pressekonferenz am Montag machten die Ermittler neue Details zu dem Fall öffentlich. Der Verdächtige hat nach Angaben der Ermittler den Großteil seiner Opfer als Babysitter gefunden. Er sei über entsprechende Online-Plattformen an die Jobs gekommen.

Missbrauchskomplex Wermelskirchen: Kinder offenbar im Haus ihrer Familien missbraucht

„Bitte ersparen sie mir Schilderungen dessen, was ich gesehen habe“, sagte Oberstaatsanwalt Joachim Roth sichtlich gequält. „Das, was ich gesehen habe, hat mich bis ins Mark erschüttert.“ Der 44-Jährige, der in Untersuchungshaft sitzt, habe die Vorwürfe im Kern gestanden. Ihm werde unter anderem vorgeworfen, zwölf Kinder – zehn Jungen und zwei Mädchen – missbraucht zu haben. Die Hälfte der Kinder sei nicht älter als drei Jahre gewesen. Sie stammten offenbar aus seinem näheren Umfeld.

Der Mann habe bis 2018 als Babysitter im Großraum Köln gearbeitet und sich unter anderem über Onlineplattformen Eltern als Hilfe angeboten. Die Taten soll er laut Ulrich Bremer von der Staatsanwaltschaft "in den Räumlichkeiten der jeweiligen Familien" begangen haben. Er habe Babys, Kleinkinder und auch Kinder mit Behinderung betreut, so die Ermittler. Manche Kinder habe er jahrelang betreut. Der Verdächtige sei verheiratet und habe selbst keine Kinder. Er ist nicht vorbestraft.

Die Eltern der Kinder hätten in keinem Fall Verdacht geschöpft, berichteten die Ermittler. Auch einige Opfer seien völlig überrascht gewesen von der Nachricht der Polizei, dass sie vor Jahren im Kleinkind-Alter Opfer schwersten Missbrauchs geworden seien. Ihnen sei Hilfe angeboten worden.

Fünf Säuglinge und Kinder mit Behinderung unter den Opfern

Der Missbrauchskomplex von Wermelskirchen hat nach Angaben der Ermittler eine Dimension an Brutalität, die die von Lügde noch übersteigt. "In diesem Komplex stehen wir sicherlich noch ganz am Anfang", sagte Polizeipräsident Frank Schnabel.

Der 44-Jährige, der ausführliche Listen von Pädophilen führte, habe mit Dutzenden weiteren Männern Bilder und Videos "unvorstellbarer Brutalität" getauscht, erklärten die Ermittler. Es seien gewaltige Datenmengen mit 3,5 Millionen Bildern und 1,5 Millionen Videos sichergestellt worden. Bislang seien 74 Verdächtige und 33 minderjährige Opfer identifiziert worden. Das jüngste Kind sei einen Monat alt gewesen. Unter den Opfern seien fünf Säuglinge und Kinder mit Behinderung. Auch ein Teil der weiteren Tatverdächtigen soll selbst Kinder vergewaltigt haben.

Die Gewaltfantasien, die dabei verwirklicht worden seien, hätten auch erfahrene Ermittler in dem Bereich entsetzt. Gefunden wurden „brutalste Vergewaltigungen von Babys und Kleinkindern“. Es gebe Anhaltspunkte dafür, dass die Kinder in einigen Fällen betäubt worden seien. Die Polizei schließt außerdem nicht aus, dass sich die Zahl der Opfer weiter erhöhen könnte. Bisher seien erst zehn Prozent der sichergestellten Daten ausgewertet worden.

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Zugriff in Wermelskirchen: Kollegen im Videochat vermuteten Überfall

Ein Tipp des Landeskriminalamts (LKA) Berlin brachte die Ermittler auf die Spur des 44-Jährigen. Das LKA stieß auf einen Chat zwischen einem Verdächtigen in einem anderen Fall und dem Mann aus Wermelskirchen. Die Kölner Polizei überwachte daraufhin sein Telefon.

Am 3. Dezember 2021 stürmten Mitglieder eines Spezialeinsatzkommando (SEK) die Wohnung des 44-Jährigen. Beim Zugriff überraschten sie ihn am Computer – so konnte er keine Daten mehr löschen. Kollegen, mit denen der Verdächtige gerade in einer Videokonferenz war, vermuteten beim Anblick der bewaffneten Einsatzkräfte einen Überfall und riefen die Polizei. Erst später erfuhren sie von den Vorwürfen gegen den Wermelskirchener.

Missbrauchsskandal: Ermittlungen in 14 Bundesländern

Deutschlandweit wird in 14 Bundesländern – sämtlichen außer Bremen und dem Saarland – gegen Verdächtige ermittelt. Die Kölner Polizei hat eine "Besondere Aufbauorganisation Liste" (BAO-Liste) eingesetzt.

„Ich kann allen Pädophilen nur sagen: Wir kriegen euch“, kündigte NRW-Innenminister Herbert Reul in einem Pressestatement an. „Einestages stehen wir vor eurer Tür“, sagte er in Richtung möglicher weiterer Missbrauchstäter. Die Ermittler hätten auch in diesem Fall nachweisen können, dass der Verdächtige aus Wermelskirchen mit dem Haupttäter des Missbrauchskomplex in Münster in Verbindung stand. Der 44-Jährige habe Missbrauchstaten des Mannes aus Münster über das Internet beobachtet und per Chat-Nachricht sogar Anweisungen gegeben, was der Täter dem Opfer antun sollte.

Missbrauch von Kindern in NRW: Zahlreiche Fälle in den letzten Jahren aufgedeckt

In Nordrhein-Westfalen hatte es in den vergangenen Jahren mehrere Kriminalitätskomplexe mit schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern gegeben. Auf den Missbrauchsfall Campingplatz Lügde im Kreis Lippe folgten die Ermittlungen zu den Komplexen Bergisch Gladbach und Münster.

Im Fall Bergisch Gladbach befreiten die Ermittler 65 Kinder aus der Gewalt von Sexualstraftätern. Die "BAO Berg" hatte seit ihrem Start im Herbst 2019, ausgehend von einem Familienvater in Bergisch Gladbach, ein weit verzweigtes Geflecht rund um schweren Kindesmissbrauch aufgedeckt. Es gab (Stand Anfang 2022) 439 Tatverdächtige und bundesweit 27 Festnahmen.

In dem 2020 aufgedeckten Missbrauchskomplex Münster waren Kinder in einer Gartenlaube und an anderen Orten vergewaltigt worden. Bislang hat die Polizei mehr als 30 Opfer identifiziert und über 50 Verdächtige ausfindig gemacht, die zum Teil schon verurteilt wurden. (dpa/bst)