Behördenversagen im Missbrauchsskandal: 3.000 Seiten Untersuchungsbericht

Lügde: Brutaler Missbrauch Dutzender Kinder hätte schon 2 Jahre zuvor gestoppt werden können

ARCHIV - 31.01.2019, Nordrhein-Westfalen, Lüdge: Polizeiabsperrung steht auf einem Absperrband der Polizei, die das Gebäude auf dem Campingplatz Eichwald, eingrenzt. Auf dem Campingplatz in Lügde im Kreis Lippe waren Kinder für Pornodrehs missbraucht worden. Der Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags zum Kindesmissbrauch in Lügde beginnt am Freitag mit der Zeugenvernehmung. Foto: Guido Kirchner/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Lügde: Brutaler Missbrauch Dutzender Kinder hätte schon 2 Jahre zuvor gestoppt werden können
gki, dpa, Guido Kirchner

Dieser Missbrauchsskandal erschütterte 2018 ganz Deutschland. Auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde wurden kleine Kinder schwer sexuell missbraucht. Außerdem wurde kinderpornografisches Material in fast unvorstellbarer Höhe angefertigt und verbreitet. Besonders erschreckend: Der Fall weitete sich zu einem Behörden- und Polizeiskandal aus, denn bereits Jahre zuvor gab es Hinweise gegen die Tatverdächtigen und ihr perverses Vorgehen. Stern-TV-Reporter Lennart Neuhaus hat den Fall jetzt neu beleuchtet, sprach mit dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses und Zeugen, die der Polizei und Ämter schon Jahre zuvor von der pädophilen Neigung des Täters Andreas V. berichteten.

Skandal von Lügde: Missbrauch hätte schon 2 Jahre eher gestoppt werden können

27.06.2019, Nordrhein-Westfalen, Detmold: Der Angeklagte Andreas V. wird von einem Justizmitarbeiter in den Saal des Landgerichtes geführt. Links sein Anwalt Johannes Salmen. Über viele Jahre hinweg sollen Kinder auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde hundertfach schwer sexuell missbraucht worden sein. Drei Männer sind angeklagt. Ein 56-Jähriger aus Lügde und ein 34-Jähriger aus Steinheim sollen den Missbrauch begangen und teilweise gefilmt haben. Ein 49-Jähriger aus dem niedersächsischen Stade soll an Webcam-Übertragungen teilgenommen haben. Foto: Bernd Thissen/dpa-POOL/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Missbrauchs-Prozess Lügde: Der Haupttäter Andreas V. versteckt sich hinter einer Akte
bt jat, dpa, Bernd Thissen

Diese Verbrechen sind so menschenverachtend und brutal, wie man es sich zuvor kaum vorstellen konnte. Die unfassbaren Taten der Sexualstraftäter von Lügde in Nordrhein-Westfalen. Hier haben auf einem Campingplatz Haupttäter Andreas V. und sein Komplize Mario S. über Jahre hinweg mindestens 32 Kinder im Alter von 4 bis 14 Jahren sexuell missbraucht und dabei gefilmt. Darunter auch das Pflegekind von Andreas V.

Jetzt, knapp drei Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandal von Lügde kommt ein 3.000 Seiten dickes Gutachten des Untersuchungsausschusses zu einem erschütternden Ergebnis: „Nach unseren Erkenntnissen hätte der Missbrauch zwei Jahre bevor er tatsächlich aufgeflogen ist, gestoppt werden können.“ Das sagt der Ausschuss-Vorsitzende und Jurist Martin Börschel. Und weiter: „Es war ein großes Behördenversagen!“

Missbrauch auf Campingplatz: Die Opfer leiden bis heute

Auch die Töchter von Julia B. wurden Opfer der beiden Männer. „Sie haben sich selbst verletzt“, sagt die immer noch zutiefst schockierte Mutter. Und nicht nur das: Sie berichtet von dem schrecklichen Trauma ihrer Mädchen, das die Familie fast zerstört hätte. Julia B. dachte sogar daran, ihre Kinder abzugeben, da sie mit der Situation völlig überfordert war, sie aß und schlief nicht mehr. Das Leid der eigenen Töchter – zu viel für die Mutter.

Und auch sie ist sich sicher: Die Polizei und das Jugendamt hätten den Missbrauch ihrer Töchter und vieler anderer Kinder verhindern können.

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Viele Fragen im Fall Lügde bis heute ungeklärt

Jens Ruzsitska ist selber Vater. Er warnte die Behörden bereits 2016 vor Andreas V. Ruzsistka lernte V. auf einem Kindergeburtstag im Jahr 2016 kennen. Der Vater beschreibt eine alarmierende Situation: Andreas V. tollte immer viel mit den Kindern herum. Er hob sie auch hoch. Aber nicht auf die Weise, wie man es normal täte – unter den Achseln. Er griff den Kindern zwischen die Beine – jedes Mal. Wollte sogar von den Mädchen, dass sie ihren Rock beiseite schieben.

Sofort nach dem Kindergeburtstag informierte Jens Ruzsitska das Jugendamt und die Polizei über den Vorfall. Doch dann der Schock: drei Tage später bekam der besorgte Vater einen Anruf, dass alles in Ordnung sei. Das Jugendamt wäre dort gewesen, die Polizei auch. Doch man habe nichts festgestellt. Unfassbar, wenn man das heute, nach allem was man weiß, liest.

Unterschuchungsausschuss: "Behörden haben versagt"

Martin Börschel sitzt am Schreibtisch
Martin Börschel (SPD), Vorsitzender des Untersuchungsausschusses des Missbrauchsskandal von Lügde
deutsche presse agentur

Der eingesetzte Untersuchungsausschuss befragte mehr als 170 Zeugen, darunter Jens Ruzsitska und andere Eltern mit konkreten Hinweisen, die Andreas V. als pädophil darstellen. „Doch dem wurde nicht nachgegangen“, sagt der Vorsitzende des Untersuchungsausschuss Börschel. Das Behördenversagen nimmt seinen Lauf. Andreas V. bekommt eine Pflegetochter zugesprochen. Der Missbrauch auf dem Campingplatz geht weiter.

Der nächste Skandal: Koffer mit 150 sichergestellten Datenträgern verschwindet

Es klingt wie in einem schlechten Film, denn die Pannen reißen nicht ab! Ein Koffer mit 150 sichergestellten Datenträgern ist plötzlich nicht mehr auffindbar. Verschwunden aus einer Polizeidienstelle. Und sie tauchten bis heute nicht wieder auf. Zufall? Kaum denkbar. „Skandalös“ nennt Börschel den Fall der verschwundenen CDs. „Die Polizeiarbeit sowohl in der Ermittlung bis zum Auffliegen des Täters und in der Zeit danach war ein einziges Chaos. Teilweise Schlamperei und wirklich schlecht“, fasst Börschel zusammen. Die Leidtragenden: Dutzende missbrauchte Kinder, die bis heute zutiefst traumatisiert sind.

Video: Michaela Vandieken - Opfer des Missbrauchsskandals Lügde

Haupttäter Andreas V. zu 13 Jahren Haft verurteilt

2019 kommt es zum Prozess. Andreas V. wird zu 13 Jahren Haft verurteilt, Mario S. zu zwölf Jahren. Beide mit anschließender Sicherungsverwahrung. Der 3.000 Seiten Bericht des Untersuchungsausschuss, der jetzt dem Landtag vorliegt, kommt zu dem traurigen Fazit: Es gab nicht nur einen Missbrauchsskandal, sondern auch einen Behördenskandal! (lth)