Experte Thomas Sonnenburg im RTL-Gespräch
Nach dem Tod von Luise aus Freudenberg: Warum Kinder zu Mördern werden
von Ulrich Vonstein
Warum? Der Fall Luise wirft viele Fragen auf, die drängendste für viele Menschen: Warum werden Kinder zu Mördern? Auch wenn die Erkenntnis unbefriedigend ist: DIE eine Antwort darauf gibt es nicht. Wir haben mit dem bekannten Sozialpädagoge Thomas Sonnenburg gesprochen. Er beurteilt den Fall aus sozialpädagogischer Sicht, da die Ermittler bisher keine Details über ein mögliches Tatmotiv bekannt gegeben haben.
„Die Mädchen sind nicht losgegangen, um zu morden“
Der Experte erklärt: „Es ist eine Tat, die unheimlich schrecklich ist. Sie macht fassungslos, ich frage mich, wie kann so etwas passieren.“ Er ist sicher: „Die Mädchen sind nicht losgegangen, um zu morden.“ Die Kinder hätten einen Streit gehabt, die beiden anderen wollten ihrem Opfer „eine Abreibung geben“. Aus diesem Grund hätten sie auch die Tatwaffe bei sich gehabt, glaubt Sonnenburg.
„Aber dass es zu dieser schrecklichen Tat in der Endkonsequenz kam, haben beide Mädchen nicht gewollt“, sagt er eindeutig. „Da lege ich mich fest.“ Es handele sich um „Momente, die nichts entschuldigen, die aber auftreten“, so der ehemalige Streetworker aus Eisenhüttenstadt.
Mord an Luise in Freudenberg: "Sie wussten nicht, was sie tun"
Die beiden Täterinnen seien „heute in einer Situation, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten wird und die sie aufarbeiten müssen.“ Verständlicherweise fordere und erwarte die Bevölkerung harte Strafen für Mörder, „in dem Fall für junge Mörderinnen, kindliche Mörderinnen“, so Sonnenburg.
Zugleich gibt er zu bedenken: „Es sind Kinder, die in dieser Situation nicht um die Konsequenz ihres Handelns wussten, die nicht wussten, was sie tun.“ Er ist der Ansicht, dass die beiden Mädchen „eine Betreuung brauchen, die wahrscheinlich bisher in ihrem Leben so nicht stattgefunden hat.“
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Experte: Luises Mörderinnen "brauchen ganz viel Liebe und Fürsorge"
„Wenn Kinder Gewalt als einziges Konfliktlösungsmittel kennen, dann wird es gefährlich.“ Er ist sicher, dass Kinder nicht um die Konsequenzen ihres Handelns wissen. Er sagt: „Immer wieder gibt es nach einer solchen Tat die Erkenntnis, dass Kinder komplett zusammenbrechen und traumatisiert sind für ihr ganzes Leben, weil sie irgendwann begreifen, was sie eigentlich getan haben.“
Die beiden Täterinnen sind nicht mehr bei ihren Familien, das Jugendamt steht nun vor der schwierigen Aufarbeitung des Geschehens. Man müsse sich die Frage stellen: „Was ist eigentlich in den Familien passiert, wo fehlte es?“, so der Experte. Er hoffe, dass „absolute Profis am Werk sind.“
Die beiden Mädchen sollten unbedingt voneinander getrennt und intensiv psychologisch betreut werden. „Man muss ihnen ganz viel Liebe und Fürsorge entgegenbringen“, so Sonnenburg. „Obwohl sie eine schreckliche Tat begangen haben, die eigentlich unvorstellbar ist.“
Sonnenburg beklagt einen „Werteverfall“ und appelliert an Gesellschaft
Der Experte äußerte sich auch zur Tatsache, dass es sich bei den Täterinnen hier um Mädchen handelt. Trotz einer Häufung von Fällen, in denen Mädchen Straftaten begehen, glaubt er: „Wir reden hier immer noch von Einzelphänomenen.“
Allerdings sagt er auch: „Wir sind in einer Phase, in der junge Heranwachsende ein neues Selbstbewusstsein bekommen.“ Das könne sich in vielerlei Hinsicht äußern. „Man kann die Beste in Mathe sein, man kann aber auch die Brutalste in seiner Peergroup sein“, sagt er.
Sonnenburg beklagt einen „Werteverfall“ in Deutschland. Werte wie Achtsamkeit oder Unterstützung von älteren Menschen spiele keine Rolle mehr. Er beschließt das Gespräch mit einem Appell an uns alle und fordert, Veränderungen bei Kindern wahrzunehmen und mit ihnen darüber zu reden, „was ist richtig, was ist falsch.“ Das gelte für Begleitpersonen wie Lehrern und natürlich in erster Linie Eltern. Aber nicht nur für sie: Hier sind wir alle als Gesellschaft gefordert.“
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Daten und Zahlen: Schwere Straftaten bei unter 14-Jährigen in Deutschland selten
Dass Kinder unter 14 Jahren Gewalttaten wie schwere Körperverletzung, sexuellen Missbrauch, Totschlag oder Mord begehen, kommt selten vor. Allerdings ist 2021 die Zahl der tatverdächtigen Kinder in diesem Bereich gegenüber dem Vorjahr bundesweit angestiegen (7.477 zu 7.103). Verglichen mit 2019 gab es 2021 jedoch einen Rückgang um rund zehn Prozent.
Bei den „Delikten gegen das Leben“ sind die absoluten Zahlen äußerst niedrig: 2021 gab es in diesem Bereich bundesweit 19 tatverdächtige Kinder, darunter vier Mädchen. Die Zahlen schwanken von Jahr zu Jahr stark, in den vergangenen 20 Jahren lagen sie jährlich zwischen vier und 21 Tatverdächtigen. Zur Einordnung: Laut Statistischem Bundesamt lebten in diesem Jahr rund 8,5 Millionen Kinder unter 14 Jahren in Deutschland.