"Männer sollten ein sauberes kleines Beutestück haben"Meine Mutter, die Giftmörderin: Tochter erzählt von einer Kindheit des Grauens

von Frank Vacik und Christina Warnat

Annelie K. (67) wurde vom Landgericht Chemnitz wegen Mordes an ihrem ehemaligen Lebensgefährten „Hansi“ zu lebenslanger Haft verurteilt – 18 Jahre nach dessen Tod. Für K.s Tochter ist das Urteil ein Stück späte Gerechtigkeit. Denn ihre Mutter, so erzählt die Psychologin Jane König im RTL-Interview, habe ihre Kindheit zur Hölle gemacht. Psychische und physische Gewalt hätten an der Tagesordnung gestanden.

Verschimmeltes Pausenbrot als Strafe

Das Bild, das Jane König aus Chemnitz von ihrer Mutter und der Kindheit mit ihr zeichnet, könnte dunkler nicht sein. Im Interview erzählt sie uns von einer Frau, die mit vielem durchgekommen sei. Sie könne sich sogar vorstellen, dass Annelie K. nicht nur einmal gemordet habe, so die 50-Jährige. Dass sie nun wegen Mordes an ihrem Stiefvater zur Rechenschaft gezogen worden ist, sei für Jane König eine Genugtuung.

Ihr Alltag als Kind sei geprägt gewesen von unberechenbarer Gewalt, Demütigungen und Missbrauch. Wegen Nichtigkeiten habe es Schläge gesetzt, als Strafe habe ihre Mutter Jane oft verschimmelte Brote mit in die Schule gegeben. Das sei ihr selbst nur aufgefallen, weil sie mit Mitschülern die Schnitten getauscht habe. „So ist der Lerneffekt zustande gekommen, dass dann jemand gesagt hat: ‘Ihhh, was hast denn du da?`“, erzählt sie im RTL-Gespräch. „Weil für mich hat das ja völlig normal geschmeckt. Ich fand sogar die guten Schnitten, die nicht verdorben waren, etwas seltsam im Geschmack.“

Mutter soll Tochter anderen Männern zum Missbrauch überlassen haben

Jane König aus Chemnitz war erst drei oder vier, als der sexuelle Missbrauch durch fremde Männer begann, die die eigene Mutter nach Hause holte.
Jane König war erst drei oder vier, als der sexuelle Missbrauch durch fremde Männer begonnen haben soll.
privat, privat, privat

Ihre Mutter habe auch Männer eingeladen. Zum Missbrauch. Da sei Jane erst vier oder fünf Jahre alt gewesen. Ein zartes, eher schmächtiges Mädchen, sagt sie. „Mir ist dann irgendwann das Licht aufgegangen, dass immer, wenn da jemand zu Besuch gekommen ist, andere Männer, dann musste ich halt ins Bad. Demzufolge war Körperpflege also auch nichts Schönes. Baden, duschen war für mich immer mit einem nachfolgenden schmerzvollen Erlebnis verbunden.“ Sie habe sich geweigert, sich nicht gewaschen, was dazu geführt habe, dass sie beleidigt, geschlagen und getreten worden sei. „Wenn Männer mit zu Besuch gekommen sind, dann sollten sie ja ein sauberes kleines Beutestück haben.“

Ob die „Besucher“ durch die Bank Pädophile waren, welche Motive sie antrieben, wisse sie nicht. Auch an die Gesichter könne sie sich nicht erinnern. Jane König habe eine Technik entwickelt, um an dem schweren sexuellen Missbrauch nicht zu zerbrechen und das Erlebte von sich abzuspalten. Während der Vergewaltigungen sei über ihr immer ein Stückchen Himmel gewesen, das sie betrachtet habe. „Ich habe die Leute nicht angeguckt“, sagt sie im Interview. Für die 50-Jährige sei es eine außerkörperliche Erfahrung gewesen. Auf der Straße hätte sie keinen ihrer Peiniger wiedererkannt.

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"Mama hat gesagt, du weißt schon, wie das funktioniert"

Nach der Hochzeit mit ihrem Stiefvater Anfang der 80er sei es besonders schlimm geworden. In dem Jahr sei auch ihre Halbschwester geboren worden. Jane ist überzeugt, dass Annelie K. ihren Mann zu ihr schickte, um sie sexuell zu missbrauchen. Er sei dann alkoholisiert gewesen, habe sich „erst Mut antrinken müssen“, glaubt die 50-Jährige. Mit zehn oder elf habe er sie zum ersten Mal vergewaltigt. „Die Mama hat ja gesagt, du weißt schon, wie das funktioniert, wie das läuft“, habe er gemeint.

Jane sei geschockt gewesen, „Hansi“ habe zuvor Vertrauen in ihr geweckt, die Hoffnung, dass jetzt doch alles gut werden würde. Die Erinnerungen an den Missbrauch seien lückenhaft, womöglich ein Schutzreflex ihrer Psyche, vermutet sie. Fünfzehn bis zwanzig Mal habe der Stiefvater sich an ihr vergangen, vielleicht öfter. Sie habe schon als Kind begriffen, wie sie sich schützen, manche Übergriffe abwenden konnte.

Jane König sieht ihre Mutter als Haupttäterin, die ihren Mann zu den Taten angestiftet habe. „Ich glaube, er wollte sie nicht verlieren und hat deswegen sehr viel mitgetragen, mit gewusst und auch mich missbraucht.“ Er sei Annelies Marionette gewesen, mit zunehmendem Alkoholmissbrauch immer unberechenbarer geworden, habe sie oft brutal geschlagen.

Mutter nannte sie nur "Mike": Jane König dachte lange, sie sei ein Junge

In der Zeit der ersten Übergriffe durch Wildfremde habe sie herausgefunden, dass sie kein Mädchen ist. Unfassbar: Ihre Mutter soll Jane König in dem Glauben gelassen haben, dass sie ein Junge sei, habe sie nie mit ihrem Mädchennamen, sondern immer nur mit „Mike“ angesprochen. Im Kindergarten habe es deswegen oft Ärger gegeben, weil Jane mit ihren Kumpels im Stehen gepinkelt habe. Sie sei empört gewesen, dass die Erzieherinnen und Erzieher sie nicht mit ihrem Jungennamen angesprochen hätten. Diese existenzielle Krise habe Jane damals in große Traurigkeit gestürzt. Sie habe sich wertlos gefühlt als Mädchen, ein Glaubenssatz, den die Mama ihr eingeflößt habe.

Bei einem Kindergeburtstag in der ersten Klasse sei ihr zum ersten Mal aufgegangen, dass daheim etwas nicht in Ordnung ist. Niemand habe gezuckt, sei in Schutzhaltung gegangen, wenn der Vater oder ein anderer Mann um die Ecke gebogen sei, die Berührungen seien anders gewesen. Sie hätten das Mädchen „gefeiert und lieb gehabt, weil die Geburtstag hatte“, sagt König. „Die musste sich nicht mal anstrengen!“ Eine halbe Stunde sei sie nicht vom Klo gekommen, so sehr habe sie geweint, „In dem Moment habe ich die Unschuld verloren sozusagen, da war alles klar.“ Ab dem Tag sei sie in den Überlebensmodus gewechselt.

Jane König ist nicht überrascht, dass ihre Mutter eine Mörderin ist

Dass das Landgericht Chemnitz davon überzeugt ist, dass Annelie K. ihrem Mann 2003 ein Schlafmittel ins Eis mischte, dem Alkoholsüchtigen anschließend noch Desinfektionsmittel und Cognac einflößte, überrascht Jane König nicht.

Sie erinnere sich noch, dass ihre Mutter öfter „etwas zerdrückt“ oder „ein Glas Bier umgerührt“ habe. „In meiner Familie wurde viel Alkohol konsumiert und ich wusste, dass man ein Glas Bier eigentlich nicht umrühren muss.“ Sie habe ihrem Stiefvater sehr häufig Getränke bringen müssen, die ihre Mutter zuvor alleine in der Küche zubereitet habe. „Hansi“ habe unterschiedlich auf die Drinks reagiert. Von Bewusstlosigkeit bis Erbrechen. Symptome, die Jane König von sich selbst gekannt habe. „Das war der Moment, wo ich 1:1 zusammengezählt habe, weil ich dann auch häufig nach Mahlzeiten Übelkeit oder Bauchschmerzen, also verschiedene Symptome hatte.“

„Guck mal, der stirbt jetzt und du bringst ihn um“

Dann kam der Abend. der alles verändert habe. Annelie K. habe Wodka mit Tabletten zubereitet, Jane König, damals etwa elf Jahre alt, sollte ihm das Getränk servieren und bei ihm bleiben, bis er ausgetrunken habe. Da sei er schon ziemlich angeschlagen gewesen. „Dann hat er halt angefangen, relativ schnell die Augen zu verdrehen. Gurgellaute, hatte Schaum vorm Mund und ist dann so weggerutscht.“

Ihre Mutter habe hinter ihr gestanden, ihr über den Arm gestrichen und gesagt: „Guck mal, der stirbt jetzt und du bringst ihn um“, erinnert sich die Psychologin und dreifache Mutter heute an diesen schrecklichen Moment. „Ich war mir sicher, wenn der jetzt stirbt, dass ich dann eine fette Strafe kriege. Es ist mir zu keiner Sekunde in den Sinn gekommen aufgrund meiner Kindheit, dass mir jemand glauben könnte, dass sie es war. Das war für mich völlig logisch. Mein ganzes Leben bestand im Prinzip nur aus ihrer Allmacht.“ Ihr Stiefvater überlebte – zumindest dieses Mal.

Jane König: Spuren der Gewalt bleiben bis heute

Mit 17 Jahren floh Jane aus der Familie – bevor ihr Stiefvater unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Zu diesem Zeitpunkt sei sie zum ersten Mal verliebt und in einer rebellischen Phase gewesen, habe eine Ausbildung absolviert. Ihr Stiefvater habe sie vor ihrer Flucht so massiv geprügelt, dass sie quer durch den Raum und gegen Wände geflogen sei. Bis heute habe sie Probleme mit der Halswirbelsäule, erzählt die 50-Jährige. Mit der ersten eigenen Wohnung habe ein ganz neues, selbstbestimmtes Leben für sie begonnen. Ohne Strafen, ohne Angst.

Nun, so viele Jahre nach diesem Martyrium, endlich ein Stück Gerechtigkeit. Annelie K. wurde wegen Mordes an „Hansi“ zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. "Die Kammer hat keinen Zweifel, dass Sie Ihren Mann vergiftet haben", sagte Richterin Simone Herberger in der Urteilsverkündung vor dem Landgericht Chemnitz. Dabei sah es jahrelang so aus, als hätte ihr Ehemann selbst eine Überdosis Schlaftabletten und Alkohol zu sich genommen. Der 49-Jährige starb im Mai 2003.

Jane König machte Therapie, um zu gucken: "Bin ich gefährlich?"

Trotz allem blickt Frau König auch mit Dankbarkeit zurück. Warme Erinnerungen an ihre lieben Großeltern, die sie aufgefangen und ein Gefühl der Geborgenheit gegeben haben. „Egal wie schlimm etwas ist, egal wie ausweglos eine Situation ist, man muss nur ganz genau gucken, es gibt immer etwas ganz winzig Kleines, wenn es auch verschüttet ist, aber es gibt etwas Schönes trotzdem an jeder Situation“, ist sie überzeugt. „Man muss es finden wollen.“

Die Folter, die Qualen, habe sie später, als sie schon selbst Mama war, in einer Therapie verarbeitet, „um zu gucken, bin ich gefährlich? Darf ich Kinder haben, mache ich das gleiche mit denen und so. Da habe ich schon Angst gehabt“. Heute betrachte sie ihre Vergangenheit nicht mehr „mit Hass oder mit Groll, auch nicht mit Angst. Ich sehe es seit ich 25 bin als: Deswegen bin ich heute wer ich bin. Deswegen bin ich in der Lage, anderen, die in Not sind, zu helfen, ihre eigenen Kapazitäten wahrzunehmen“.

In der Therapie als Psychologin begleitet Jane König Patientinnen und Patienten, die Gewalt, egal ob psychisch oder physisch, erlebt hat. „Das verdient niemand, das darf auch nicht passieren.“ Wenn man es da heraus schaffe, habe „es keinen Sinn, die ganze Zeit im Kopf da drin gefangen zu bleiben“, glaubt König. Nach vorne schauen, leben. „Da hat Selbstmitleid dann keinen Platz mehr.“ Mit uns hat die 50-Jährige gesprochen, um Mut zu machen und Opfern zu sagen: „Es ist nicht deine Schuld.“ Um Hilfen aufzuzeigen, damit aus einem „Opfer ganz schnell ein Mensch werden kann und darf, der versteht, dass das Leben jetzt losgeht und weitergeht“.