Neurologe schätzt Ergebnisse von neuer Studie ein
Bei jedem vierten Koma-Patienten reagiert das Gehirn - wird oft zu früh abgeschaltet?

„Wir können leider nicht mehr viel tun”
Ein Mensch hat eine schwere Hirnverletzung erlitten, liegt auf Intensivstation im Koma. Das medizinische Personal ist sich sicher, dass der Patient das Bewusstsein nicht vollständig zurückbekommen wird. Die Angehörigen sind traurig, denn der Patient liegt einfach nur da, reagiert weder auf Berührungen noch auf Worte. Doch wie sieht es in seinem Inneren aus? Das wollen Forscher nun herausgefunden haben.
Hirnaktivität von Koma-Patienten: Das hat es mit der neuen Studie auf sich
Was passiert mit uns, wenn wir sterben? Gibt es da ein Licht am Ende des Tunnels? Sehen wir wirklich noch einmal all unsere schönsten Erinnerungen an unserem inneren Auge vorbeiziehen? Fragen, die sich die Menschheit seit jeher stellt.
Fast genauso spannend: Was passiert eigentlich mit uns, wenn wir im Koma liegen? Schließlich befinden wir uns in einer Art Zwischenstadium, sind weder tot noch bei vollem Bewusstsein.
Mit der Frage, wie viel ein Koma-Patient tatsächlich von seiner Umwelt mitbekommt, haben sich jetzt US-Forscher auseinandergesetzt. Ihre Studie, die im Fachjournal „New England Journal of Medicine” veröffentlicht wurde, zeigt: Jeder vierte Patient soll seine Außenwelt wahrnehmen! Und auch generell würden sie mehr bemerken, als bisher gedacht. Das haben Untersuchungen der Hirnaktivität gezeigt.
Weitere Informationen zur Studie:
Die Studie wurde an sechs internationalen Zentren durchgeführt.
Es wurden Stichproben klinischer, verhaltensbezogener und aufgabenbasierter Daten von 353 Erwachsenen mit Bewusstseinsstörungen gesammelt.
Die Teilnehmer hatten etwa einen Verkehrsunfall mit Schädel-Hirn-Trauma, einen Schlaganfall oder eine Wiederbelebung nach Herz-Kreislauf-Stillstand. Teils erlitten sie ihre Verletzung schon vor Monaten.
Die Durchschnittsalter der Teilnehmer betrug etwa 38 Jahre.
Die Forscher untersuchten einmal die Reaktion auf Befehle OHNE beobachtbare Antwort auf verbale Befehle und die Reaktion auf Befehle MIT beobachtbarer Antwort auf verbale Befehle.
Die Forscher scannten die Gehirne der Teilnehmer, die wiederum Anweisungen bekamen, beispielsweise ihre Hand zu öffnen und zu schließen.
Das Phänomen nennen die Forscher „Cognitive Motor Dissociation in Disorders of Consciousness“. Auf Deutsch: kognitiv-motorische Dissoziation bei Bewusstseinsstörungen.
Das Ergebnis: Zwar können Koma-Patienten mit unterschiedlichen Hirnverletzungen nicht auf eine Frage antworten oder körperlich reagieren. Das bedeute aber nicht gleich, dass ihr Gehirn währenddessen nicht kognitiv arbeitet, so die Studienautoren.
Denn: 214 der Teilnehmer (25 Prozent), die normalerweise nur im Bett liegen, zeigten zwar keine äußerlich sichtbare Reaktion – trotzdem befolgten 60 von ihnen die Anweisungen, ihre Hand zu öffnen und zu schließen. Sie waren aufmerksam und konnten verstehen, was von ihnen gefordert wurde. Es handelte sich also um eine kognitiv-motorische Dissoziation.
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Wie kann das sein? Neurologe schätzt „wirklich sehr spannende” Studie ein

Auch wenn einige Experten skeptisch sind: Professor Dr. Christoph Kleinschnitz, Facharzt für Neurologie und Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen, findet die US-Studie und ihre Ergebnisse „wirklich sehr spannend”, wie er uns im RTL-Interview verrät.
Er sagt: „Toll ist, dass es die Forscher überhaupt geschafft haben, so viele schwerkranke Patienten mit diesen sehr neuen und komplexen Techniken zu untersuchen.”
Wichtig! Trotzdem müsse man im Hinterkopf behalten, dass das „Phänomen“ der kognitiv-motorischen Dissoziation auf gar keinen Fall gleichzusetzen ist mit einem vollen, normalen Bewusstsein. Was die Ergebnisse ebenfalls verzerren könne, sei die Tatsache, dass manche Patienten kurz nach der Hirnschädigung, andere wiederum erst nach Monaten untersucht wurden. Zudem hatten alle unterschiedliche Ursachen für ihre Hirnverletzungen.
Aber: „Als Grundlage für weitere Studien und Forschung sollten diese Ergebnisse auf alle Fälle dienen”, so der Neurologe. Vor allem in Bezug auf eine Besserung des Gesundheitszustands.
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Werden Koma-Patienten zu schnell aufgegeben? Experte schätzt Situation ein
Eine Sorge, die vermutlich viele Menschen haben, die durch die neuesten Ergebnisse bestärkt werden dürfte. Doch muss man sich wirklich Gedanken machen?
Ob Koma-Patienten zu schnell aufgegeben werden, das könne man auch nach dieser neuen Studie so pauschal nicht sagen. Kleinschnitz erzählt: „Schon jetzt macht man sich in der Intensivmedizin anhand bestimmter Prognosemarker intensiv bei jedem einzelnen Patienten Gedanken, wie viel und wie lange man therapiert. Damit wird nicht leichtfertig umgegangen.”
So spreche man nie laut von sensiblen Inhalten wie Therapieeinstellung, Prognose und Co. vor komatösen Patienten, da man eben nicht sicher sagen kann, was sie mitbekommen – und was nicht.
Vor allem bei jüngeren Patienten sollte man auf keinen Fall zu früh aufgeben, „da gerade im jüngeren Alter das Regenerationspotenzial des Gehirns auch nach schwerer Schädigung zum Teil enorm ist und sich auch nach vielen Monaten mit intensiver Reha teilweise deutliche Besserungen einstellen”, so der Experte.
Was sich mit der Erkenntnis der Studie deckt: Ein jüngeres Alter sei laut den Studienautoren unter anderem verantwortlich gewesen für die kognitiv-motorische Dissoziation.
Insgesamt müsse dieses Feld laut des Experten nun weiter erforscht werden, um noch mehr über das Innere – und damit verbundenen Behandlungsmöglichkeiten – von Koma-Patienten zu erfahren.
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