RTL-Reporterin stößt bei dem Fall an ihre Grenzen

Ein grauer Schleier über Freudenberg: Wie der Ort den Tod der Schülerin Luise verarbeitet

Fall der getöteten zwölfjährigen Luise
Freudenberg trauert um die getötete zwölf Jahre alte Luise.
jat, dpa, Federico Gambarini

von Bella Christophel

Die zwölfjährige Luise, erstochen von zwei Mädchen – vermeintliche Freundinnen, selbst gerade einmal 12 und 13 Jahre alt. Ein Fall, der nicht nur Freudenberg schockiert, sondern die Menschen bundes- ja sogar weltweit bewegt. Die kleine Stadt kurz vor Siegen steht still, während die Ereignisse sich überschlagen. Nichts ist plötzlich so, wie es einmal war. Aber irgendwie muss es weitergehen, oder nicht? Wie gehen die Menschen vor Ort mit ihrer Trauer und den vielen offenen Fragen um? Was macht so eine grausame Tat mit uns? Ich habe mehrere Tage vor Ort verbracht und bin dabei auch als Reporterin an meine Grenzen gestoßen.

Ein grauer Schleier über Freudenberg

„Trauer kann man nicht sehen, nicht hören – man kann sie nur fühlen.“ So lauten die ersten Worte der Traueranzeige, die Luises Eltern eine Woche nach der Tat in der Lokalpresse veröffentlicht haben. Und genau so fühlt es sich an. Wie ein grauer Nebel, ein Schleier, eine tonnenschwere Last – die Schwere, die nun auf Freudenbergs Schultern lastet. Dafür muss auch niemand auf der Straße weinen, Gespräche können sich auch mal um etwas anderes drehen, es darf auch gelacht werden. Trotzdem ist Luise und die Fassungslosigkeit über ihren viel zu frühen Tod da.

Sobald man den Schleier hebt, offenbart sich was darunter liegt: ein großes Redebedürfnis, viele offene Fragen, große Themen, die durch den Mord angestoßen wurden. Immer wieder erlebe ich, dass Menschen vor Ort von sich aus auf mich zukommen, sobald sie mich als Reporterin ausmachen können. Sie wollen sich mitteilen. Sie wollen mir erzählen, was sie wissen. Aber sie stellen auch Fragen, die ich ihnen nicht beantworten kann. Zum Beispiel: „Wie soll man das jemals verkraften?“

Trauerfeier für getötete Zwölfjährige in Freudenberg Abschied von Luise
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Abschied von Luise
Trauerfeier für getötete Zwölfjährige in Freudenberg

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Luises Eltern: "Für uns steht die Welt still"

Wir merken bei unseren Recherchen vor Ort schnell, dass in diesem Ausnahmefall plötzlich Institutionen gefragt sind, die sonst nicht so präsent sind. Die Kirche, der Heimatverein – Menschen, die anderen Menschen jetzt Halt geben können. Am Dienstagabend nach der Tat treffe ich einen Mann vor der evangelischen Kirche in Freudenberg der mich fragt: „Wo ist Gott in solchen Momenten?“ Er sei eigentlich nicht gläubig, aber wo solle man jetzt sonst hingehen, um mit den Gefühlen fertig zu werden. Darauf geht er in das kleine Gotteshaus oben am Berg, trägt sich in Luises Kondolenzbuch ein.

Lese-Tipp: Luises Eltern wenden sich in emotionaler Traueranzeige an die Öffentlichkeit

Auch Mitglieder des Heimatvereins treffen wir eine Woche später, am Dienstag, den 21. März morgens um 9:30 Uhr an der Kirche. Eine Frau weint, nachdem sie gemeinsam ein Kondolenzschreiben hinterlassen haben. Schon längst ist das nicht mehr das erste Buch. Die Seiten eines Buches reichen schon lange nicht mehr aus, um die Worte zu fassen, die die Freudenberger an Luise und ihre Familie richten. Online haben sich mehrere Tausend Menschen aus dem ganzen Land in ein virtuelles Kondolenzbuch eingetragen. Die Trauer ist zu einer Gemeinschaftsaufgabe geworden.

Viele kommen auch zum Fundort von Luises Leiche. Auch viele Tage nach der Tat stehen hier im Wald noch Menschen, die in Stille gedenken. Die sich nicht ausmalen wollen, was die beiden anderen Mädchen der Zwölfjährigen hier angetan haben. Sie legen Blumen nieder – viele Tulpen, die Luise gerne hatte. Sie bringen Teddybären mit, Engel und Steine mit Luises Namen darauf. Auch hier liegt ein kleiner Brief. „Liebe Luise, seitdem du nicht mehr da bist, fühlt es sich so an, als würde die Welt sich nicht mehr richtig drehen.“

In den Worten von Luises Familie heißt das: „Für uns steht die Welt still“. Gewiss spüren sie die große Anteilnahme, die ihnen sicher auch Kraft gibt, selbst wenn die Leere überwiegt. In ihrer Traueranzeige schreiben die Eltern auch: „Es gibt keine Worte, um das Unbegreifliche zu begreifen.“

Freudenberg trauert um Luise Abschied im engsten Familienkreis
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Abschied im engsten Familienkreis
Freudenberg trauert um Luise

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Schweigen ist dennoch keine Option: Wieso wir weiter berichten

Unsere Berichterstattung und Recherchen haben natürlich auch Kritik ausgelöst. „Wieso fährst du da schon wieder hin?“ „Warum berichtet ihr noch immer?“, Fragen, die mir häufiger gestellt wurden. „Ihr Geier“ brüllte uns zum Beispiel ein älterer Herr entgegen, als wir am Tag der Trauerfeier berichten. Andere Freudenberger hingegen begegnen uns immer wieder zuvorkommend, höflich, bieten uns Kaffee oder einen Ort zu Aufwärmen an. Immer wieder öffnen die Menschen sich ganz von allein, kommen auf uns zu, um zu reden, Fragen zu stellen. Schweigen scheint für viele keine Option. Das gleiche gilt für uns.

Und ja: Selten war es so schwierig, zu berichten. Was erzählt man? Was erwähnt man lieber nicht? Vor allem auf eine sehr feinfühlige Wortwahl kommt es an. Und natürlich haben wir uns intern abgestimmt in welchen Grenzen wir uns bewegen wollen und dürfen.

Lese-Tipp: Luise (12) von Mitschülerinnen erstochen: Eltern der Täterinnen haben Freudenberg verlassen

Ich bedränge keine Trauernden, befrage keine Minderjährigen, Schulhof und Wohnhäuser sind tabu

Mit diesen abgesteckten Grundsätzen habe ich mich sicher gefühlt. Immer im Hinterkopf der Respekt vor den trauernden Angehörigen, den Mitschülern, den Eltern und Luise selbst. Immer im Blick auch die Verantwortung gegenüber den Mädchen, die die Tat begangen haben und ihren Familien. Jeder Schritt, jedes Wort und jede Frage vor Ort müssen von uns Reportern gut abgewogen sein.

Trauer findet häufig in Stille statt. Doch wir sehen und spüren auch: Stille kehrt nicht ein, solange so viele Fragen offen sind. Zum Beispiel über das Motiv, inwieweit Mobbing und die Social-Media-Plattform TikTok eine Rolle gespielt haben. Deshalb hat die Öffentlichkeit ein Interesse und ein Stück weit auch einen Anspruch zu erfahren, was wirklich passiert ist.

Die Gesellschaft will und muss versuchen, eine solche Tat zu verstehen. Im besten Falle auch, um Ähnliches in Zukunft unwahrscheinlicher werden zu lassen, weil Kinder sich vielleicht auffällig verhalten und jemand es frühzeitig erkennt. Hier haben wir als Journalisten eine Verantwortung.

Lese-Tipp: Emotionale Traueranzeige von Luises Klassenkameraden: "Wir sind nicht mehr komplett!"

Trauerfeier für Luise Freudenberg
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Freudenberg
Trauerfeier für Luise

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Luises Gedenkgottesdienst: Ein Tiefpunkt der Trauer

Am Mittwoch den 22. März 2023 – 11 Tage nach der Tat – ist dann der Trauergottesdienst für Luise angekündigt. In der evangelischen Kirche in Freudenberg, wo sie vor wenigen Jahren getauft wurde. Seit Montag bin ich wieder im Ort und spüre verschiedene Emotionen. Einige Freudenberger haben Angst, sind froh, dass sie an dem Tag nicht da sein müssen. Andere sprechen über die Regularien zur Gedenkfeier: „Genau richtig so, dass die Kirche geschützt wird“. Andere finden 18 Uhr „eine komische Uhrzeit“. Viele befürworten, dass der Gottesdienst in Luises Schule zu hören sein wird. Ich habe den Eindruck, dass wohl alle wissen, was an diesem Tag in ihrem Ort stattfindet.

In den Straßen stehen schon am Vorabend Halteverbots-Schilder. Von 16 bis 20 Uhr dürfen nicht einmal die Anwohner dort parken. Beamte sperren die Straße vor der Kirche ab. Absperrzäune und Ordner, nichts soll diesen Ort der Trauer stören. Am Nachmittag bringt ein Bestatter den Sarg in das Gotteshaus. In der ganzen Stadt sind Polizisten unterwegs, um den Verkehr umzuleiten und die Menschen von der Kirche fernzuhalten. Die Stimmung ist kurz vor der Trauerfeier angespannt und bedrückend.

Um 17:45 laufe ich noch einmal durch die Straße in der Altstadt unterhalb der Kirche. Die Glocken beginnen zu läuten. Währenddessen kommen Luises Eltern an der Kirche an. Es sind noch Menschen unterwegs, die ihrem Alltag nachgehen. Eine Frau zupft Unkraut. Beim Friseur räumen die Angestellten auf. Im Restaurant sitzen vereinzelt Menschen. Doch mehr und mehr erfüllt sich die Seele Freudenbergs mit Andacht und Trauer. Als ich vorne beim Altstadt Hotel ankomme, sehe ich einen Mann, der zur Kirche hoch blickt – in Gedanken wohl bei Luise und ihrer Familie. Er hat die Hände gefaltet, die Glocken tun ihr Übriges, sodass auch mir eine Träne über die Wange läuft. In der Stadt wird es jetzt still.

Straßenschilder zum Trauergottesdienst in Freudenberg
Die Stadt hat Vorkehrungen getroffen, um den Bereich rund um die Kriche zu schützen. Der Trauergottesdienst soll für Luises Familie und die Freunde ungestört ablaufen.
RTL

Abschied von Luise: "Das Böse darf nicht Überhand gewinnen"

Für mich und ich glaube auch für viele Menschen im Ort wird es auf einmal sehr real. Zu wissen, dass wenige Meter entfernt, Freunde, Eltern, Luises Klassenkameraden Abschied nehmen, dass ihr Körper in einem weißen Sarg in der Kirche ruht, ganz in der Nähe ihrer Liebsten – das geht ans Herz und unter die Haut.

„Luise ist tot. Eure Luise! Ihr trauert, unsere Stadt Freudenberg trauert, und das ganze Land. Heute sind wir hier, an ihrem Sarg. Um uns gemeinsam an Luise zu erinnern. Um von ihr Abschied zu nehmen. Um Euer Leid zu teilen.“ Mit diesen emotionalen Worten eröffnet Pastor Thomas Ijewski die Trauerfeier. Seine Worte sind auch in Luises Schule zu hören. Insgesamt nehmen an beiden Orten – der Kirche und der Schule – rund 900 Menschen zeitgleich Abschied. Beide Orte vereinen die Fassungslosigkeit, die vielen Fragen, die Leere aber auch den gemeinsamen Halt nach dieser grausamen Tat. Den Menschen und auch mir ist schwer ums Herz, so nennt es auch der Pastor.

Ich will und kann mir nicht vorstellen, wie es Luises Familie jetzt geht. Wie sie weinend auf den Kirchbänken sitzen und auf den Sarg blicken, wissend, dass ihre Luise niemals zurück kommt. Doch der Pastor sagt und schreibt auch in seiner Rede: „Das Böse darf nicht Überhand gewinnen. Wir sind füreinander da, und das sollen wir nicht vergessen. Denn das gibt Hoffnung.“ An der Gesamtschule steigen Luftballons in den Himmel, darauf Luises Name. Nach und nach verlassen die Menschen die Kirche, die Stadt bewegt sich wieder und doch steht das Herz irgendwie still. Die Gedenkfeier ist vorbei, bald wird Luise beerdigt.

Heimreise aus Freudenberg
Auf dem Heimweg von Freudenberg denke ich viel an Luise und ihre Familie.
RTL

Wir verlassen den Ort, doch die Fassungslosigkeit bleibt

Eigentlich wollen mein Kollege Torsten und ich noch mindestens einen Tag bleiben. Wir wollten schauen, wie sich die Trauer in Freudenberg entwickelt, wie die Menschen damit umgehen – das war unser Job. Doch am Donnerstagmorgen, den Morgen nach der Trauerfeier, beschließen wir einstimmig, dass wir die Heimreise antreten. Zu frisch sind die Wunden und wir wollen sie nicht immer wieder aufreißen.

Ja, das Leben geht auch in Freudenberg teilweise weiter, der Unterricht an Luises Schule läuft wieder, es sind weniger Seelsorger präsent und es gibt inzwischen auch wieder andere Themen in der Stadt. Eine Schülerin der Abschlussklasse hatte mir an einem Abend erzählt, dass es teils sogar erschreckend sei, wie normal alles wieder ablaufe, „fast so als sei nie etwas gewesen“.

Trotzdem sind Forderungen nach Aufklärung, vor allem an der Schule, noch zu laut. Dort wollen viele, dass endlich über Mobbing gesprochen wird – intern und nicht nur in der Öffentlichkeit. Das Mädchen aus der Abschlussklasse sagt: „An unserer Schule ist vieles nicht so wie es scheint und da sollten wir jetzt endlich mal hinschauen.“ Ich hoffe das tun sie. Nicht zuletzt, weil es auch 13 Tage nach der Tat wieder neue erschütternde Details gibt – über die Mädchen, die den Mord an Luise gestanden haben. Vermutlich wird da auch noch einiges kommen und weitere Berichte folgen.

Doch ich bin froh, dass ich Freudenberg vorerst verlassen kann. Ich habe das Gefühl, der Ort braucht jetzt Ruhe, keine Reporter und Fotografen mehr, keine Gerüchte untereinander, sondern saubere Aufarbeitung. Seit Montag war es hier grau, es hat oft geregnet und ich wurde das Gefühl des tristen Schleiers, der mich überall hin begleitete, nicht los. Als ich auf die Autobahn fahre reißt der Himmel auf. Im Kopf habe ich einen Song, der auf Luises Trauerfeier gespielt wurde – „Dancing in the sky“ von Zita. Der Text lautet: „Tell me, what does it look like in heaven? Is it peaceful? Is it free like they say?“ Ich denke an Worte, die meine Mama zu mir sagt, wenn das Wetter unterwegs plötzlich schön wird. Sie sagt immer: das passiert, „wenn Engel reisen“. Ich denke dabei nicht an mich, sondern an Luise. Ich kann mich von der Trauer nun entfernen, zeitgleich weiß ich, dass das in Freudenberg noch ein langer Weg wird. Vor allem für Luises Familie – sie trägt den traurigen Ort seit Luises Tod in ihrem Herzen und kann ihn nicht verlassen.