Studie liefert vielversprechende Ergebnisse

Kommt jetzt die Abnehmspritze für Kinder?

The boy eating a hamburger and french fries on white backround
Die Zahl der adipösen Kinder steigt. Könnte die Abnehmspritze, die bereits bei Erwachsenen zum Einsatz kommt, auch für Kinder eine Lösung darstellen?
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Die Zahl stark übergewichtiger Kinder steigt seit Jahren. Könnte ein Pieks dieser Entwicklung entgegenwirken?
Die dänische Pharmafirma Novo Nordisk hat die Abnehmspritze mit dem Wirkstoff Liraglutid erstmals an adipösen Kindern getestet – mit zunächst vielversprechenden Ergebnissen. Die Langzeitfolgen bleiben allerdings unklar. Was Experten zu Wirkung und Gefahren sagen? Ein Überblick.

Warum Übergewicht bei Kindern oft weitreichende Folgen haben

In Deutschland sind 15,4% der drei- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen übergewichtig, fast jedes sechste Kind ist betroffen. Knapp sechs Prozent dieser Altersgruppe sind adipös, das wiederum entspricht jedem 17. Kind. Während man bei Erwachsenen bei einem BMI <30 von Adipositas (Fettsucht) spricht, ist das bei Kindern ab einer BMI-Perzentile > 97 – 99,5 definiert. Ab einem Wert größer als 99,5 handelt es sich um extreme Adipositas.

Diese Entwicklung ist in vielerlei Hinsicht besorgniserregend: Zum einen gelten Übergewicht und Adipositas als Risikofaktoren für Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Gelenkbeschwerden und Asthma. Außerdem leiden übergewichtige Kinder meist unter einem geringeren Selbstwertgefühl und werden häufiger Opfer von Mobbing. Zum anderen werden aus übergewichtigen Kindern oft auch übergewichtige Erwachsene.

Könnten Abnehmspritzen also auch für Menschen unter 18 Jahren eine Lösung sein?

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Bisher gibt es keine wirklich erfolgreiche Methode für Kinder, um Adipositas zu behandeln

Eine Studie gibt jetzt Hinweise darauf, dass der Wirkstoff Liraglutid bei Kindern effektiv wirkt und sicher ist. Untersucht wurde die Wirkung der Gabe bei Sechs- bis Zwölfjährigen. „Bisher gibt es für diese Altersgruppe keinerlei Medikation, um Adipositas zu behandeln”, erklärt Daniel Weghuber vom Uniklinikum Salzburg, der selbst nicht an der Studie beteiligt war. Bei den meisten Jugendlichen mit Adipositas habe diese auch schon zum Zeitpunkt der Einschulung bestanden. Eine so früh wie möglich einsetzende Intervention bei Kindern sei also wichtig.

Bisher stehe als Methode ausschließlich eine Lebensstilveränderung im Rahmen einer Familienschulung zur Verfügung, erklärt Weghuber, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde. „Das ist leicht gesagt, aber sehr schwierig umzusetzen.” Insofern könne die Verwendung von Liraglutid gerade bei Kindern mit einer extremen Form von Adipositas ein wesentlicher ergänzender Schritt sein.

Der Wirkstoff Liraglutid ist ein sogenannter Glucagon-like-Peptid-1-(GLP-1)-Rezeptoragonist. Er verlangsamt die Magenentleerung und wirkt appetithemmend, was insgesamt die Gewichtsabnahme fördert. Für Jugendliche und Erwachsene ist der Wirkstoff zur Behandlung von Diabetes und Übergewicht auch in Europa zugelassen.

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Aussagen über Langzeitfolgen sind bislang nicht möglich

Wie bei Jugendlichen und Erwachsenen stelle sich aber die Frage, inwiefern die Substanz für eine langfristige Therapie geeignet und sicher sei. „Diese Frage gilt nicht nur für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren, sondern für alle Menschen mit dieser Therapie”, so Weghuber. Bekannt sei bisher nur, dass es bei einem Absetzen des Mittels beim überwiegenden Teil der Betroffenen wieder zu einer Gewichtszunahme komme.

Liraglutid muss also nach derzeitigem Kenntnisstand langfristig über Jahrzehnte genommen werden. Welche Langzeitfolgen das mit sich bringen könnte, ist bisher unklar, weil dieses und ähnliche Mittel noch nicht lange genug im Einsatz sind.

Auch Nerys Astbury von der University of Oxford - ebenfalls nicht an der Studie beteiligt - gibt zu bedenken: „Obwohl es keine Hinweise darauf gab, dass sich Liraglutid nachteilig auf Veränderungen der Körpergröße, des Knochenalters oder des Pubertätsstatus auswirkte, sind weitere längerfristige Nachuntersuchungen der Teilnehmer und ihrer Wachstumsmuster erforderlich.”

Martin Wabitsch vom Universitätsklinikum Ulm erklärt, dass eine Hoffnung darin bestehe, dass eine frühzeitige Anwendung des Medikaments zu einer so deutlichen Wirkung führt, dass die Dosis später reduziert oder das Mittel sogar ganz abgesetzt werden kann.

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Studie liefert vielversprechende Ergebnisse

Die neue Studie, die im Fachjournal „New England Journal of Medicine” vorgestellt wurde, lief über einen Zeitraum von 56 Wochen. Darin einbezogen wurden 82 stark adipöse Kinder in den USA. 56 von ihnen erhielten eine tägliche Injektion mit Liraglutid (Markenname „Saxenda”), 26 Kinder erhielten Placebo-Spritzen. Alle Teilnehmenden seien zudem individuell zu gesunder Ernährung und körperlicher Aktivität beraten worden, schreiben die Forschenden um Claudia Fox von der University of Minnesota in Minneapolis.

Der durchschnittliche Body-Mass-Index (BMI) verringerte sich bei den Kindern der Liraglutid-Gruppe um 5,8 Prozent, in der Testgruppe nahm er um 1,6 Prozent zu. Generell legten alle Kinder im Zuge ihres Wachstums an Gewicht zu, die Kinder in der Liraglutid-Gruppe aber nur 1,6 Prozent, die in der Placebogruppe zehn Prozent des Ausgangsgewichts.

Die beobachtete Gewichtsveränderung der behandelten Kinder entspreche dem Zehnfachen der bei einer Lebensstiländerung zu erwartenden, ordnet Weghuber ein.

Nebenwirkungen ähneln denen älterer Probanden

Die beobachteten Nebenwirkungen entsprachen den zuvor in Analysen mit Jugendlichen und Erwachsenen beobachteten, wie es in der Studie weiter heißt. Häufig waren das Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Knapp elf Prozent der Kinder, die Liraglutid erhielten, brachen die Einnahme aufgrund der Nebenwirkungen ab.

Wabitsch ist der Ansicht, dass das Medikament künftig vor allem für Kinder mit extremer Adipositas in Frage kommt - und ergänzt: „Und sicher nicht für alle Kinder mit Adipositas”. Diese kleine Gruppe von Patientinnen und Patienten sei durch eine starke biologische Anlage für Adipositas charakterisiert. Kennzeichnend sei ein Defekt der zentralen Regulation von Hunger und Sättigung. „Genau hier setzt Liraglutid an.”

Es gehe weder darum, allen Kindern zukünftig Medikamente zu geben, noch Sport oder eine Ernährungsumstellung zu ersetzen, erklärt Wabitsch dem Science Media Center. Abnehmspritzen könnten Kinder mit starkem Übergewicht vor Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen schützen. Und auch nur dafür sollten sie eingesetzt werden.

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Daten zu ähnlichen Wirkstoffen stehen noch aus

Nachfolgemittel aus der gleichen Substanzgruppe wie Semaglutid (Markenname „Wegovy”) und Tirzepatid („Mounjaro”) haben Studien zufolge eine bessere Wirkung, zudem müssten sie nicht täglich gespritzt werden. Studien zur Verträglichkeit und Wirksamkeit dieser beiden Wirkstoffe bei Kindern gibt es bisher noch nicht.

Semaglutid und Liraglutid seien in der EU und in den USA ab zwölf Jahren zugelassen, erklärt Wabitsch. Die jetzige Veröffentlichung werde dazu führen, dass auch die Zulassung für Liraglutid ab sechs Jahren komme, ist der Mediziner überzeugt.

Für Semaglutid laufe in seinem Zentrum in Ulm derzeit eine ähnliche Studie bei Kindern, deren Ergebnisse für kommendes Jahr zu erwarten seien. (nri/dpa)

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