Vom eigenen Ehemann betäubt und hundertfach vergewaltigtSo lebt Gisèle Pelicot jetzt – „Rest meines Lebens wird nicht reichen, um das Trümmerfeld aufzuräumen!”

„Das Unvorstellbare können Sie sich nicht vorstellen!”
Kurz vor Weihnachten soll in Südfrankreich das Urteil gegen Dominique Pelicot fallen. Dem 72-Jährigen wird vorgeworfen, seine damalige Frau Gisèle über fast zehn Jahre hinweg immer wieder mit Medikamenten betäubt, missbraucht und sie von fremden Männern vergewaltigen lassen zu haben. Für die Justiz dürfte der Fall bald abgeschlossen sein. Aber wie macht eine Frau weiter, die das Unvorstellbare erlebt hat?
Avignon-Prozess kurz vor dem Ende: Strafen zwischen 4 und 20 Jahren gefordert
50 Männer sollen Teil des jahrelangen Missbrauchs von Gisèle Pelicot in Frankreich gewesen sein, so das erschütternde Ergebnis des Mammutprozesses. Die 72-Jährige geht inzwischen davon aus, innerhalb von fast zehn Jahren etwa 200 Mal vergewaltigt worden zu sein. Etliche Videos und Fotos ihres damaligen Mannes sollen die Übergriffe bezeugen. Die Ermittler vermuten, dass neben den 50 Mitangeklagten noch ein gutes Dutzend weitere Männer an den Taten beteiligt waren, die jedoch nicht identifiziert werden konnten.
Dominique Pelicot hat die mutmaßlichen Taten vor Gericht gestanden. Ihm droht die Höchststrafe für schwere Vergewaltigung von 20 Jahren. Für seine Mitangeklagten hat die Staatsanwaltschaft zwischen vier und 20 Jahren Haft gefordert. „Alles stürzte ein. Alles, was ich 50 Jahre lang aufgebaut hatte”, beschreibt Gisèle Pelicot vor Gericht den Moment, als sie erfährt, was ihr Mann gemacht haben soll. Ans Licht kommt es nur durch einen Zufall, weil ihr Mann dabei erwischt wird, wie er Frauen in einem Supermarkt heimlich unter den Rock filmt. Es ist der 12. September 2020 – der Tag, der das „erste Leben” der Frau für immer beendet.
Im Video: Wer sind die Männer, die Gisèle Pelicot vergewaltigt haben?
Gisèle Pelicot: „Die Scham muss die Seiten wechseln!”
„Innerhalb weniger Tage war Gisèles Leben auf einen Koffer und ihren Hund reduziert”, sagt David, ihr ältestes Kind, vor Gericht. Alles, was mit ihrem Vater zu tun gehabt hätte, hätten sie „sofort weggeworfen”. Wenige Tage vor Prozessbeginn im September wird die Scheidung der Pelicots rechtskräftig.
Der Prozess sorgt weltweit vor allem deshalb für Aufsehen, weil Gisèle Pelicot es ablehnt, ihn – wie in ähnlichen Fällen üblich – hinter verschlossenen Türen zu führen. Längst ist sie mit ihrem entschiedenem Auftreten zu einer Ikone, einem feministischen Vorbild, geworden. Sie zwingt die Gesellschaft hinzusehen und auch die Opfer von sexueller Gewalt wahrzunehmen, nicht nur die Täter. „Die Scham muss die Seiten wechseln!”, sagt sie vor Gericht.
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Im Video: Dominique Pelicot betäubte auch eigene Tochter
Vergewaltigungsprozess in Frankreich kurz vor Urteil: „Nicht mehr müde”– Das neue Leben der Gisèle Pelicot
Aber es gibt auch eine andere Seite der Gisèle Pelicot. „Der Rest meines Lebens wird nicht reichen, um das Trümmerfeld aufzuräumen!”, zitiert die BBC eine ihrer Aussagen. Auch wenn das Urteil gegen ihren Mann noch nicht gefallen ist, hat ihr „zweites Leben” schon begonnen. Inzwischen hat sie ihren Mädchennamen wieder angenommen, tritt nur im Prozess noch unter Pelicot auf, damit ihre Enkelkinder „stolz“ darauf sein können, mit ihr verwandt zu sein.
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Aus Mazan, wo sie mit ihrem Mann lebte, ist sie nach Informationen der BBC längst weit weggezogen. Demnach befindet sie sich noch in psychiatrischer Behandlung, soll aber keine Medikamente mehr nehmen, weil sie „keine Substanzen mehr zu sich nehmen möchte”, heißt es in dem Bericht. Sie mache lange Spaziergänge und sei nicht mehr müde, wie sie es durch die heimlich verabreichten Medikamente ihres Mannes jahrelang gewesen war.
Immer wieder kommt während des Prozesses die Frage auf, warum so lange keiner etwas mitbekommt und auch niemand aus der Familie Verdacht schöpft. Ging es Gisèle Pelicot doch stets besser, wenn sie sich eine Weile nicht in der Nähe ihres Mannes aufhielt. Der Ehemann von Gisèles Tochter Caroline ist es, der es vor Gericht auf den Punkt bringt: „Sie vergessen eines“, sagt er. „Das Unvorstellbare können Sie sich nicht vorstellen”. (sbl)