RTL-Reporter erinnert sich - Prozess am Dienstag gegen Vater Koen van B.

Raphael (10) nach Panama entführt: Tagebuch einer verzweifelten Suche nach vermisstem Kind

von Gizem Schumann und Klaus Felder

Es waren die wohl schlimmsten Wochen für Melanie Brandauer, Mutter aus Mühlacker bei Pforzheim (Baden-Württemberg). Denn ihr Sohn Raphael (10) war wochenlang verschwunden – vom leiblichen Vater ins Ausland entführt. Genauer: nach Panama. Die Mutter und Raphaels Stiefvater Andreas machten sich höchstpersönlich auf den Weg nach Mittelamerika, um nach dem Jungen zu suchen. RTL-Reporter Klaus Felder begleitete sie. Doch wo sollten sie anfangen? In einem unbekannten Land und ohne Informationen darüber, wo genau sich die beiden aufhielten. Am Dienstag soll nun endlich der Prozess gegen den Vater Koen van B. starten.

RTL-Reporter Klaus Felder hat den Fall Raphael von der ersten Minute an begleitet.
RTL-Reporter Klaus Felder hat den Fall Raphael von der ersten Minute an begleitet.
RTL

Raphaels Vater Koen van B. hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen

Januar 2022: Raphael soll heute aus dem Weihnachtsurlaub bei seinem leiblichen Vater kommen, seine Mutter hat das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Sie und ihr Mann haben lange nichts mehr von Raphael gehört und hoffen einfach, dass er gleich aus dem Zug steigt und seine Mutter ihn in die Arme schließt. Nun stehen sie und ich (RTL-Reporter Klaus Felder) vor dem Hauptbahnhof Köln und warten am Haupteingang. Menschen umarmen und begrüßen sich herzlich. Die Masse der Menschen lichtet sich. Ein Gesicht fehlt: Raphael. Wir stehen noch lange auf dem Bahnhofsvorplatz, wir warten stumm und wissen doch: Er kommt nicht mehr. Auch die letzten Hoffnungen, dass vielleicht ein Toilettengang oder ein Telefonat Grund für seine Verspätung ist, glauben wir nun selbst nicht mehr.

Mein Blick schweift langsam hinüber zu den beiden. Der Stiefvater wirkt gefasst, orientiert und nahezu sogar konzentriert. Die Mutter ist still. Stumme Tränen erscheinen vor ihren Pupillen, ihr starrer Blick lässt die Januarkälte für mich fortan noch heftiger erscheinen. Wortlos verlassen wir nach einem kurzen Interview den Bahnhof.

Panama: Melanie und Andreas Brandauer mit Raphael
Raphael (11) lebt mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in Mühlacker bei Pforzheim (Baden-Württemberg).
privat

Melanie und Andreas Brandauer werden die Worte der neuen Lebensgefährtin des leiblichen Vaters nun schmerzlich bewusst. Diese hatte Melanie während des Umgangsurlaubes informiert, dass sie einen Abschiedsbrief gefunden habe und die Vermutung hege, dass der Vater sich mit Raphael nach Übersee abgesetzt hat. Sämtliche Kontaktversuche schlagen fehl. Kein Handy, keine Email. Selbst der geliebte Facebook-Account existiert nicht mehr. Da der Vater den zuvor gerichtlich beantragten Reisepass von Raphael bei sich führt, ist der mögliche zeitliche Vorsprung der beiden nun ein riesiges Problem.

Schlussendlich erstattet die Mutter noch am selben Abend in Köln bei der Polizei eine Vermissten- sowie eine Strafanzeige wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger. Das Paar vertraut auf die Behörden und hofft, dass sie seine Motivation und Sorgen verstehen. Als Reporter stehe ich ihnen zur Seite – ich berate, tröste, telefoniere, organisiere, recherchiere… doch ohne Erfolg. Raphael bleibt verschwunden.

Entscheidender Tipp führt nach Panama

Einen Tag später bin ich in Pforzheim. Hier wohnt Raphael normalerweise mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in einem gut situierten Haus. Es ist freundlich, friedlich und warm.

Der Christbaum steht noch, das Zimmer von Raphael, alles unverändert. Doch trotz Heizung sitzt die Kälte in unseren Knochen. Wo ist Raphael? Was tun wir jetzt? Wie erreichen wir den Vater? Geht es Raphael gut? Müssen wir ihn abholen? Jede Frage wird mehrfach besprochen, mögliche Lösungen immer wieder verworfen.

Die Mutter ist voller Sorge. Ein Wort für ihre wirkliche Gefühlswelt ist wahrscheinlich noch nicht erfunden. Es fließen Tränen aus Wut, Verzweiflung und purer Hilflosigkeit. Der Stiefvater ist weiterhin gefasst. Er ist auch in den kommenden Tagen der Ruhepol und kühle Kopf des Teams, zumindest nach Außen. Das hilft auch uns weiter, den Kopf aufrecht zu halten und weiterzumachen.

Eine Woche ist seit der Vermisstenanzeige nun vergangen. Wir sind keinen Schritt weiter. Die Polizei prüft Zuständigkeiten und hält uns mit „Wir tun alles, was in unserer Macht steht“ in der Verzweiflung stehen. Minütlich werden die Sorgen und Ängste größer. Wo kann Raphael sein? Geht es ihm gut? Wie weit kommt man in dieser Welt in einer Woche?

Dann erreicht uns ein entscheidender Tipp: Panama! Panama? Das einzig Schöne über dieses Land weiß ich von einem Buchcover von Janosch. Ansonsten wird mir als Journalist, der vornehmlich im Bereich Kriminalität unterwegs ist, anders. Mord. Totschlag. Drogen. Raubüberfälle. Korrupte Sicherheitsbehörden. Doch dies sind alles nur Märchen und Geschichten. Wir sind in der Realität und fest überzeugt: Wir müssen dahin! Auf eigene Faust. Ohne Unterstützung.

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Panama – zwischen Tränen und Traumstrand

Am 11. Januar treffen wir in Panama ein. Es ist heiß. Schön. Abenteuerlich. Aber dafür sind wir nicht hier. Unsere Motivation, potentiell in der Nähe von Raphael zu sein steigt ins Unermessliche. Wir sprechen mit den panamaischen Behörden über die Situation. Dank unseres spanisch sprechenden Kameramannes und unserer Notsituation können wir diese schnell auf unsere Seite ziehen. Unsere Befürchtungen, dass hier alles langsamer voran geht als in Deutschland, lösen sich in Luft auf, als wir den Tipp „Bocas del Toro“ bekommen.

Bocas del Toro ist eine Inselgruppe bestehend aus neun bewohnten kleinen Inseln, 51 Koralleninseln und über 200 kleinen Inselchen und Sandbänken. Wir zögern keine Minute und fliegen in einer kleinen Maschine hinüber. Dort angekommen sind wir im Paradies. Exotische Pflanzen, Tiere, weiße Strände… zu schön, um wahr zu sein. Doch der Grund unseres Besuches ist nach wie vor grausam.

White sand beach on a tropical island in the archipelago of Bocas del Toro off the coast of Panama surrounded by a turquoise sea.
Eine von Panamas Perlen ist die Provinz Bocas del Toro, die vor allem aus mehreren Inseln besteht.
Oscar Gutierrez, ©Oscar Gutierrez

Hier ist alles alt und langsam. Die Hotelzimmer, das Essen, die Menschen, die Technik… egal. Wir versuchen, schnell Kontakte zu knüpfen und erzählen unsere Geschichte. Und unsere Offenheit hat Erfolg: Als wir unserer Reinigungskraft im Hotel unsere Geschichte beim Frühstück erzählen, vermittelt uns diese an einen Freund. Dieser ist kein geringerer als El Commandante, der Leiter der hiesigen Polizei.

Auch hier werden wir vorstellig und erzählen alles. Ehrlich gesagt erwarten wir nicht zu viel. Immerhin sind wir nur „Touristen“. Aber weit gefehlt. Es geht Schlag auf Schlag. El Commandante schaltet Interpol Panama ein und nur einen Tag später ist die Hauptinsel übersät mit zivilen und uniformierten Polizeibeamten. Drohnen steigen auf, Fotos von Raphael werden aufgehangen und herumgezeigt. Wir laufen über Strände, suchen unter Palmen und im Dschungel, fahren mit Booten die Inseln ab, drehen jeden Stein um… ohne Erfolg. Wir durchkämmen jede Bar, jeden Shop, jedes Hotel. Wir finden nichts. Gar nichts. Auch die Beamten haben kein Glück. Von Tag zu Tag schwindet die Hoffnung. Ist alles umsonst gewesen?

12 Tage lange Suche nach Raphael in Panama

Auch ich bin langsam am Ende meiner Aufnahmefähigkeit und Kraft. Ich versuche, für die täglich mental schwächer werdende Mutter stark zu bleiben und Motivation sowie Optimismus aufrecht zu erhalten. Was mir nach außen gelingt, frisst mich innerlich auf: Auch ich bin Vater und kann den Schmerz immer mehr mitfühlen. Auch der Stiefvater ist am Limit. Seine Bodenständigkeit bewahrt er weiterhin, doch auch seine Augen füllen sich ein ums andere Mal mit Tränen der Verzweiflung. Parallel zur Suche durchkämmt er immer wieder das Internet und klammert sich verzweifelt an seine beiden Mobiltelefone in der Hoffnung, dass der entscheidende Hinweis eingeht. Doch er tut es nicht. Oftmals frage ich mich, wie viele Rückschläge und Verzweiflung ein Mensch überhaupt ertragen kann.

RTL-Reporter Klaus Felder
RTL-Reporter Klaus Felder begleitete die Familie nach Panama, um dort nach dem vermissten Raphael zu suchen.
Privat

Während unserer Zeit dort gibt insgesamt drei heiße Spuren, welche aufgrund von Zeugenaussagen von der Polizei besonders überprüft werden. Doch auch hier folgt auf jede aufkeimende neue Hoffnung ein brachialer Schlag: Keine Sichtung von Raphael. Ist er überhaupt hier? Wir ziehen dieses Programm ganze zwölf Tage durch. Schlaf dient nicht mehr der Erholung, sondern nur noch der Lebenserhaltung. Ab dann ist Ende. Es gibt nichts Neues mehr. Keine Tipps, keine neuen Erkenntnisse von der uns so wohlgesonnenen Polizei. Die deutschen Behörden haben wir längst vergessen.

Wir versuchen es noch vier weitere Tage, bis wir uns alle eingestehen müssen: Hier ist Endstation. Wir wollen es nicht wahrhaben, aber wir müssen es. Unter Tränen, mal offen, mal unterdrückt besteigen wir die Maschine zurück nach Amsterdam. Es ist der 27. Januar. Ich bin wieder zu Hause und schließe meine Familie in die Arme. Das ist das größte Glück der Welt.

Interpol Panama: "Wo bleibt ihr? Wir haben den Jungen samt Vater festgenommen!"

Raphaels Vater Koen V. - Festnahme in Panama
Nach wochenlanger Fahndung ging Koen van B. den Ermittlern ins Netz.
Interpol

Die nächsten Tage verbringe ich zu Hause. Jetlag, Papierkram, Familie. Oftmals sehe ich auf mein Zweithandy, in welchem ich eine panamaische Handykarte installiert habe. Ich hoffe auf neue Infos. Nichts. Gar nichts. Auch meine Recherchen hier laufen ins Leere. Telefonate mit den deutschen Behörden eher ermüdend. Man vertröstet mich immer wieder. Vater und Sohn sind weg.

Es ist der Abend des 5. Februar. Ich sitze an meinem Wohnzimmertisch am Laptop. Um 23:30 Uhr ertönt der Klingelton meines besagten Zweithandys, welches ich immer voll geladen und laut gelassen habe. Interpol Panama! „Leute, wo bleibt ihr? Wir haben den Jungen samt Vater festgenommen! Sie sind wohlauf. Seine Mutter weiß schon Bescheid und ist auf dem Weg!“

Mir entgleisen die Gesichtszüge. Freude und Glück durchströmen für einen kurzen Moment meine Gedanken. Doch schnell werden sie von Sorge abgelöst. Wie geht es Raphael? Wie ist der Zugriff gelaufen? Was macht es mit einem 10-jährigen Kind, wenn es über einen Monat auf der Flucht ist und dann von Polizeikräften plötzlich begleitet wird?

Ich stürze ins Schlafzimmer zu meiner Frau. Für lange Gespräche ist keine Zeit. Der Koffer fliegt aus dem Schrank und Anziehsachen notdürftig hinein. Ich eile wieder zum Laptop und buche einen Flug nach Panama. Schon wenige Stunden später sitze ich im Flugzeug, diesmal allein. Ganze 12 Stunden. Mein Kontakt zu der Mutter und dem Stiefvater ist schnell hergestellt. Wir treffen uns im Hotel.

Zunächst versuchen wir, schnellstmöglich den Transfer nach Europa zu gewährleisten. Wir telefonieren mit Behörden, gehen zur deutschen Botschaft vor Ort und steigen auf die Gipfel der internationalen Bürokratie. Auf den Vater wurde zwischenzeitlich ein internationaler Haftbefehl ausgestellt, auf Raphael ein sogenannter Festsetzungsbefehl. Wir schalten die Botschaft ein und können sämtliche Identitäten und Befugnisse einwandfrei belegen. Wir haben alle benötigten Papiere in spanischer Sprache. Die Heimkehr scheint gesichert.

Rückreise von Panama mit Raphael

Nun treffe ich das erste Mal auf Raphael. Er verweilt die meiste Zeit mit seiner Mutter im sicheren Hotelzimmer. Er sieht fit aus. Ein schicker, junger Kerl. Ruhig, besonnen und freundlich. Auch wenn er es nicht sagt, sind seine Blicke und seine Körpersprache eindeutig: Er ist froh und glücklich, wieder bei seiner Mutter und seinem Stiefvater zu sein. Die Mutter taut etwas auf. Ich sehe sie das erste Mal etwas lachen, vor Freude weinen. Innerlich teile ich diese Gefühle und freue mich mit ihr. All diese Strapazen haben natürlich Spuren hinterlassen. Doch auch diese können durch dieses neue Glück der Zusammenkunft langsam verwischt werden.

RTL-Reporter Klaus Felder mit der Familie.
RTL-Reporter Klaus Felder neben Raphael und seinem Stiefvater.
Privat

Eine Woche nach meiner Ankunft steht die letzte Etappe unserer Reise an: der Rückflug von Panama nach Amsterdam. Bei Betreten des Flughafens wird mir immer mulmiger: Bitte lass das jetzt alles glatt gehen, dass die ganze Mühe nicht umsonst war…! Ich bin angespannt, nervös und besorgt.

Melanie Brandauer, Raphaels Mutter in Panama
"Ich hab einfach nur Raphael in den Arm genommen und abgeknutscht.", erinnert sich die überglückliche Mutter an das lang ersehnte Wiedersehen mit ihrem Sohn.
RTL

Doch dank der Unterstützung der panamaischen Behörden und der Botschaft können wir problemlos den Flieger betreten und die Reise antreten. Kaum sind wir in die Sitze gesunken, fällt eine erhebliche Last von uns ab. Eine Last, die ich in meiner beruflichen Laufbahn nie glaubte, je erleben zu können. Meine Augen fallen nach einem letzten Blick auf die wieder vereinte Familie zu.

Die Landung ist hart. Wir sind wieder da und können es noch nicht glauben. Letztes Mal stiegen wir alleine aus dem Flieger… und jetzt? Jetzt ist Raphael da und wird von seinen Eltern keine Sekunde aus den Augen gelassen.

Raphael wird am Flughafen von der Familie empfangen. Omas, Tanten und weitere Angehörige liegen sich weinend in den Armen. Willkommensbanner werden in die Luft gehalten. Ich stehe ein Stück abseits und beobachte, wie alle in ihre Autos steigen und Richtung Pforzheim fahren. Die Familie ist endlich wieder zusammen.

Prozess gegen Vater startet in Pforzheim

Raphaels Vater Koen V. - Festnahme in Panama
Die Polizei entdeckte Raphaels Vater in der Stadt Pedasi und nahm ihn fest.
Interpol

Vor knapp einem halben Jahr wurde Raphaels leiblicher Vater bereits nach Deutschland überführt und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Er wartet hier auf den Prozessauftakt am 27. September.

In dieser Zeit habe ich viel mit Raphaels Mutter und dessen Stiefvater in Kontakt gestanden. Oft fallen unsere Gespräche auch auf eben diesen 27. September. Und ich gebe zu, dass auch bei mir eine gewisse Anspannung spürbar ist.

Immer wieder fällt mir ein Interview mit dem damals zuständigen Staatsanwalt ein. Auf meine Frage nach dem zu erwartenden Strafmaß gab er an, dass man sich in dem Bereich von zehn bis 15 Jahren Freiheitsstrafe bewege. Dies sei von der Schwere der Tat und der Einschätzung des Gerichts abhängig. Als absolutes Minimum wurden mir hier fünf Jahre Freiheitsstrafe genannt.

Umso überraschter war ich, als wir erfahren, dass Anklage vor dem Amtsgericht erhoben wird. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass dort maximal Freiheitsstrafen bis zu vier Jahren verhängt werden können. Alles darüber hinaus ist Sache der Landgerichte.

Bekommt Koen van B. seine gerechte Strafe?

Wie hoch wird die Strafe ausfallen? Ist sie an Auflagen geknüpft? Wird das halbe Jahr Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe angerechnet oder kommt es im Falle eines Geständnisses nur zu einer Bewährungsstrafe? Gibt es überhaupt eine gerechte Strafe?

Was ist die passende Konsequenz dafür, einen zehnjährigen Jungen aus seinem Alltag zu reißen und in eine andere Welt zu verbringen? Recht und gefühltes Recht liegen hier weit auseinander, das habe ich mehrfach erfahren dürfen. Ich werde die Familie beim Prozess begleiten und im Zuschauerraum sitzen. Und eins ist gewiss: Jedes Wort der Verhandlung wird durch mich in schriftlicher Form festgehalten und nachträglich analysiert.

Meine Gedanken drehen sich um Raphael. Kommen Erinnerungen wieder zutage? Wie ist der Stand in seinen Gedanken? Wie wird der Vater auftreten? Eins ist sicher: Ich bin bereit. Raphaels Familie ist bereit. Die letzte Etappe kann beginnen.