Rede bei Anti-Mobbing Veranstaltung

Auf Friedhof in Herne fast totgeprügelt - Transgender-Mädchen Jess: "Albträume begleiten mich jeden Tag"

Transgender-Mädchen Jess hält berührende Rede Von Kindern fast totgeprügelt
02:21 min
Von Kindern fast totgeprügelt
Transgender-Mädchen Jess hält berührende Rede

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von Christina Warnat

Dass Jess auf der Bühne stehen, wieder sprechen kann, grenzt an ein Wunder, denn beinahe hätte sie einen transfeindlichen Angriff nicht überlebt. Die damals 15-Jährige wurde von drei Jungen (12 und 13 Jahre alt) auf einem Friedhof in Herne fast totgetreten, weil sie nicht akzeptieren wollten, dass Jess ein Mädchen ist. Bei einer Veranstaltung gegen Mobbing in Lünen hat sie nun eine Rede gehalten, um ihre Geschichte zu erzählen und anderen Mut zu machen.

Jess hält mutige Rede, um ihre Geschichte zu erzählen

Jess wurde 2006 als Jason geboren. Schon im Kindergarten sei klar gewesen, dass sie anders sei. „Er wollte schon immer die pinken Kleider, er wollte schon immer die pinken Schuhe, er wollte immer lange Haare“, erzählt ihre Mutter Nicole K. im RTL-Interview. Sie selbst hat schwer mit dem Erlebten zu kämpfen, weine viel, könne nicht mehr arbeiten. Sie ist dauerhaft krankgeschrieben, seit Ende März stehe sie ohne Job da. Nicole unterstützt ihre Tochter dabei, zu heilen, die zu sein, die sie ist. RTL durfte die beiden bei den Vorbereitungen zu der Anti-Mobbing-Veranstaltung im Stadion Schwansbel in Lünen begleiten.

Tagelang habe Jess an ihrer Rede gefeilt. Sie freue sich auf den Auftritt, hoffe, dass die Menschen verstehen. Doch in die Vorfreude mischen sich auch Nervosität und Lampenfieber, wie sie im Gespräch verrät: „Ich bin aufgeregt und ich hoffe, dass ich es schaffe, vor so vielen Leuten zu sprechen.“ Ihre Mutter sagt, Jess wolle ein Zeichen setzen „für Kinder, die in Not sind, die Hilfe brauchen. Und um die Menschen und Jugendlichen aufzuklären, dass Gewalt keine Lösung ist, dass Hetze niemals in Ordnung ist, dass man Mobbing niemals mitmachen sollte“.

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Nach brutaler Attacke lag Jess tagelang im Koma

Jess (16) überlebte den brutalen Angriff auf einem Friedhof in Herne nur knapp.
Jess (16) überlebte den brutalen Angriff auf einem Friedhof in Herne nur knapp.
RTL

Jess hat eine schmerzvolle Mobbing-Vergangenheit hinter sich. Man habe sie geschlagen, mit Hundekot beworfen, Zigaretten an ihrer Kleidung ausgedrückt, ihr die Perücke vom Kopf gerissen, erzählt Nicole K. Je mehr sie sich auch nach außen als Mädchen zeigte und kleidete, desto mehr Übergriffen war sie ausgesetzt – Mobbing, das in einer Tat von unbegreiflicher Brutalität gipfelte, bei der sie lebensgefährlich verletzt worden ist.

Drei Kinder hatten nach einem Streit so lange auf Jess eingetreten, bis sie bewusstlos wurde. Halbtot ließen die Jungen sie liegen, erst zwei Stunden später fand ein Spaziergänger das Mädchen. Die Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma mit massiven Verletzungen des Sprachzentrums, Netzhautablösung, ein Ohr halb abgetrennt, verursacht durch mehrere Tritte in ihr Gesicht. Tagelang lag Jess im Koma, doch sie überlebte.

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Trans* Mädchen Jess kämpft mit den Folgen der Verletzungen

Erst seit kurzem ist die heute 16-Jährige aus der fast zweimonatigen Reha zurück, wo sie das Sprechen und Gehen neu lernen musste. Weite Wege kann sie nur mit Gehhilfe bewältigen, seit dem Angriff muss sie eine Brille tragen, erhält Unterstützung durch Logo- Ergo-, Physio- und Psychotherapie. Anfangs habe sie nur spiegelverkehrt lesen können, dann fehlten einzelne Buchstaben, was sie gequält habe. „Ich liebe lesen“, sagt sie.

Inzwischen hat sich das gebessert, doch noch immer plagen Jess Vergesslichkeit und Ausfälle, etwa, weil sie auf einmal nicht mehr weiß, wie ein bestimmtes Wort geschrieben wird. Oder was es bedeutet. Auch Schlafstörungen hat das Mädchen, nach der Attacke sei sie oft schreiend aus Albträumen geschreckt. Größere Ansammlungen von Menschen jagen ihr seither Angst ein. Dass sie sich den Auftritt in Lünen überhaupt zutraut, hat sie auch Anti-Mobbing-Coach Carsten Stahl zu verdanken, der das Mädchen unterstützt, ihm Mut zuspricht.

Video: Jetzt kämpft Jess erst recht um ein Leben als Mädchen

In ihrer Rede hat sich Jess auch direkt an die Täter gewandt, die ihr so viel Leid angetan haben. „Dass ich ohne Rollator kaum weite Strecken laufen kann, ist eure Schuld. Und Albträume begleiten mich jeden Tag.“ Sie schildert vor Publikum, was ihr am 09. April 2022 widerfahren ist. Das aufzuklären, es mit ihren eigenen Worten zu schildern, ist ihr wichtig. An ihrer Seite: Mutter Nicole und Carsten Stahl, bei denen sie sich bedankt.

„Mama, ich möchte dir sagen, dass ich dir sehr dankbar bin. Du warst immer für mich da. Selbst als ich im Koma lag, sahst du jeden Tag an meinem Bett im Krankenhaus und hast jeden Tag gehofft, dass ich aufwache. Du hast so viel organisiert“, sagt sie. „Selbst als ich in der Reha war, warst du regelmäßig da. Danke für alles, Mama.“

An Carsten gewandt sagte sie: „Du warst und bist in der kurzen Zeit mehr Unterstützung für mich als mein leiblicher Vater. Du akzeptierst mich so, wie ich bin und bestehst nicht auf Gutachten. Dir reicht, wie auch meiner Mama, mein eigener Wunsch. Ich danke dir und deinem Team für alles, was ihr für mich und meine Familie getan habt.“ Nach ihrem Auftritt ist Jess stolz, die Rede gemeistert, anderen von Mobbing, Diskriminierung und Hass betroffenen Kindern und Jugendlichen Mut gemacht zu haben. Vor Gericht kommen Jess’ Peiniger nicht, da sie unter 14 und somit nach deutschem Recht nicht strafmündig sind. Derzeit befinden sie sich getrennt voneinander untergebracht in einer Psychiatrie.

Jetzt kämpft sie erst recht um ein Leben als Mädchen Jess (15) von Kindern fast totgeprügelt
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Jess (15) von Kindern fast totgeprügelt
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