Sie war schon am beim Terroranschlag 2016 vor Ort
Seelsorgerin betreute Schüler nach Todesfahrt in Berlin: "Das ist der maximale Kontrollverlust"

Am vergangenen Mittwoch rast ein Mann offenbar gezielt mit seinem Auto in Berlin in eine Menschenmenge. Eine Lehrerin stirbt, 32 Menschen werden, teilweise lebensbedrohlich, verletzt, darunter auch viele Schüler aus Hessen. Der Tatort befindet sich gleich am Berliner Breitscheidplatz, wo 2016 ein Terrorattentat stattfand. RTL.de hat mit einer Seelsorgerin gesprochen, die bei beiden Taten vor Ort Zeugen und Betroffene betreut hat.
Seelsorgerin hilft Menschen nach der Todesfahrt, den ersten Schock zu verarbeiten
Sie sind seit über zehn Jahren als Seelsorgerin im Einsatz und haben auch den Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz 2016 miterlebt. Mit welchem Gefühl sind sie am vergangenen Mittwoch wieder an den gleichen Ort zurückgekehrt?
Das besondere an der Situation war erst Mal, dass man gehört hat „Charlottenburg“ und Charlottenburg ist ja groß. Ich habe überhaupt nicht gedacht „Das ist der Breitscheidplatz.“ Die Mehrheit der Leute, die dazu kam, Feuerwehr, Polizei, haben nicht alle sofort an den Breitscheidplatz gedacht. Erst als wir näher kamen und ich auf den Stadtplan geguckt habe, wo ich hin muss, da habe ich gedacht: „Scheiße“.
Wie können Sie als Seelsorgerin in einer solchen Situation helfen?
Wir sollen so schnell wie möglich vor Ort sein, normalerweise sind wir nur für zwei Stunden dort. Man hat herausgefunden, dass die erste Betreuung dafür sorgt, dass die Menschen wieder zu sich selbst finden und dadurch auch eine Selbsthilfe einleiten können. Sie wissen einerseits „Da ist jemand für mich da“ und andererseits behält jemand auch den Überblick über die Situation, den man erst Mal verloren hat. Aber bei einer solch einer großen Lage ist auch erst einmal alles chaotisch und man muss sich selber orientieren und auch als Team gut aufteilen.
Nach der Amokfahrt haben sie den Zeugen und Betroffenen bis zum späten Abend geholfen. Wie reagieren Menschen, die erst vor wenige Minuten miterleben mussten, wie ein Auto offenbar gezielt in eine Menschenmenge rast?
Alle wollen wissen, wie geht es den Menschen, die überfahren wurden? Da haben Freunde, Anwohner, andere Fußgänger gesehen, dass dort andere auf der Straße lagen. Die wollen wissen, was ist mit denen. Und das kann man gar nicht genau sagen, das weiß ja nicht mal die Feuerwehr. Das wird ja in den Krankenhäusern festgestellt. Da waren Menschen, die konnten es einfach nicht fassen was da passiert ist. Die Situation ist ja so: Gerade flaniert man durch die Stadt. Und Sekunden später ist das Leben anders. Das ist der maximale Kontrollverlust.
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Nach Todesfahrt in Berlin: Schüler stützen sich gegenseitig
Unter den Betroffenen waren viele Jugendliche einer hessischen Schule, wie sind sie mit der Situation umgegangen?
Manche sind sehr still, manche sind ganz aktiv, sagen: „Ich will was tun, ich muss den Mitschülern helfen!“ Sie sind ja aus der Situation auch völlig rausgerissen. Da melden sich Eltern und Angehörige und wollen wissen „Wie geht’s euch? Wo bist du, was ist los?“ Und wenn so eine Gruppe, wie eine Schulklasse zusammenkommt, dann geben sie sich gegenseitig Halt und das ist ganz wertvoll. Die sind da nicht allein. Die haben sich.
Was sagt man Menschen, die ihre verletzten Freunde und Mitschüler gerade noch am Boden haben liegen sehen?
Man kann sie fragen „Was möchtest du? Möchtest du was zu trinken, hast du Durst? Möchtest du dich bewegen?“ Und irgendwann war auch klar: Die möchten nach Hause, die möchten die Stadt verlassen, ihre Sachen packen.“
Fragen sie auch nach dem Täter?
Viele der Augenzeugen haben sich gefragt: „Warum hat er das gemacht? Das war doch Absicht!“ Zu Beginn war mein Eindruck, dass sie versuchen sich zu stützen und zu helfen und irgendwie zu verstehen was Sache ist. Aber sie haben sehr schnell gefragt, „Warum, warum hat der das gemacht?“ Irgendwann kam raus, dass sie den Täter haben, den Unfallverursacher und das sprach sich schnell rum und war, glaube ich, ein bisschen beruhigend.
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Lehren aus Terroranschlag am Breitscheidplatz gezogen
Wie geht es für die Menschen, die unverschuldet so ein Schicksal erlebt haben, jetzt weiter?
In dem Moment haben sie Sicherheit gebraucht, um den Boden unter den Füßen wieder ein bisschen zurückbekommen. Und ich glaube, das, was jetzt kommt, ist sehr individuell. Die brauchen Ruhe und Verständnis, denn das was sie da erlebt haben wird nachwirken. Man kann nur hoffen, dass sie auch Verständnis für sich selbst finden, dafür dass es bei der Verarbeitung Wellen gibt. In manchen Phasen geht es auch wieder besser, man darf auch mal lachen, man darf auch Freude haben, obwohl so etwas schlimmes passiert ist. Das zu lernen, ist ganz wichtig.
Nach dem Anschlag am Breitscheidplatz 2016 gab es auch Kritik, über den Umgang mit den Betroffenen und die Informationen für die Angehörigen. Was ist in den sechs Jahren besser geworden?
Wir wurden wieder sehr schnell gerufen, aber die Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen Einheiten war viel besser, viel koordinierter. Dass es schnell eine Hotline gab, die man nennen konnte. Dass es auch einen Krisenstab in anderen betroffenen Bundesländern gab, war viel besser. Dass diese Menschen die da in der Kirche gut geschützt und abgeschirmt sind von der Polizei, um zur Ruhe kommen zu können, das war auch sehr gut.
Was macht so eine Einsatz mit ihnen? Gibt es im Nachhinein auch eine Betreuung für die Helfer?
Man fragt sich ja immer: Habe ich alles richtig gemacht? Wir bekommen auch Betreuung individuell und in der Gruppe. Dafür gibt es auch das neue Gesetz über die psychosoziale Notfallversorgung in Berlin - das ist bislang einmalig in Deutschland. Es gab schon eine Einsatznachsorge bei der Feuerwehr und auch da hat man uns nochmal Hilfe angeboten. Und für mich ist schon klar: Ich werde auch eine Einzelsupervision wahrnehmen.
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