Dschungelcamp-Teilnehmerin Edith Stehfest hat ADHSImmer mehr Erwachsene haben Aufmerksamkeitsdefizitstörung - dieser Leidensdruck steckt dahinter!

Überfordert, weil das Gehirn anders arbeitet: Menschen mit ADHS haben oft Schwierigkeiten, sich im Alltag zu strukturieren.
Überfordert, weil das Gehirn anders arbeitet: Menschen mit ADHS haben oft Schwierigkeiten, sich im Alltag zu strukturieren.
Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-tmn

Immer zu spät, Frist vergessen – vielleicht liegt’s am ADHS?
Für viele Probleme scheint es in den sozialen Medien aktuell eine einfache Erklärung zu geben: ADHS. Selbsttests boomen, Prominente teilen ihre Diagnosen. Ganz aktuell spricht Edith Stehfest (30) bei „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!” darüber. Auf einmal scheint die Krankheit fast im Trend zu liegen. Aber was steckt wirklich dahinter? Ist es möglich, im Erwachsenenalter ADHS zu entwickeln? Wo liegt die Grenze zwischen typischem Alltagsstress und einer ernstzunehmenden Diagnose? Und warum helfen Checklisten und Motivationsapps oft überhaupt nicht? Ein Psychologe gibt Antworten.

Habt ihr euch auch schon gefragt: Hab ich ADHS?

Schon wieder das Teamtreffen im Job verpasst, die Abgabefrist für ein Projekt versäumt und dann noch die Freundin angebrüllt? Glaubt man manchen Beiträgen in sozialen Medien, kann der Grund dafür nur ADHS sein: die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bei Erwachsenen. Lange war sie eher ein Thema bei Kindern. Nun steigt die Suche nach Selbsttests für Erwachsene im Internet rasant. Bei einer US-Umfrage ging bereits ein Viertel der Teilnehmer davon aus, unter ADHS zu leiden. Kann das sein?

Selbst beim Zuspätkommen ist ADHS neuerdings als Entschuldigung zu hören. „Das gilt schon fast als fancy”, sagt Andreas Reif, Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Uniklinik Frankfurt. Dabei sei das beiläufige Erwähnen psychischer Erkrankungen ansonsten eher ein Tabu. „Es rennt normalerweise auch niemand durch die Gegend und sagt, ich habe Schizophrenie”, ergänzt der Facharzt.

Wie kommt es zu AHDS?

ADHS hängt mit einem gestörten Stoffwechsel des Botenstoffs Dopamin im Gehirn zusammen – in der Regel von der Kindheit an. Außer nach Unfällen mit Hirnschädigung können Erwachsene die psychische Erkrankung nicht plötzlich bekommen. Vererbung spielt nach dem heutigen Stand der Forschung die größte Rolle.

Doch kein einzelnes Gen ist verantwortlich, es ist ein wechselndes Zusammenspiel von Erbfaktoren. „Der Punkt, an dem es kippt, ist nicht klar definiert”, sagt Reif. Eine wichtige Rolle beim Ausgleich spielten intellektuelle Fähigkeiten. Deshalb bekomme auch nicht jeder Mensch mit dieser Dopamin-Störung automatisch Probleme im Leben.

Ist es möglich, dass ein ADHS-Outing von Weltstars wie Jennifer Lopez oder Justin Bieber einen Trend geweckt hat unter dem Motto: Hab ich das auch? Arzt und Fernsehmoderator Eckart von Hirschhausen ging seinem persönlichen Verdacht in einer TV-Doku nach und fand ihn nach einem Diagnose-Verfahren an der Uni-Klinik Bonn bestätigt.

Aber: Die Lage ist verzwickt. Nach Daten der Krankenkasse AOK gab es zwischen 2006 und 2023 bei den Diagnosen einen Anstieg von hyperkinetischen Störungen, zu denen auch ADHS zählt, von 0,1 auf 0,5 Prozent bei erwachsenen Mitgliedern. Die Medizin geht davon aus, dass konstant 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung an ADHS leiden. Die Zahl steigt also nicht, augenscheinlich aber die Wahrnehmung der Erkrankung.

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Selbsttests im Internet sind oft banal

Experte Reif sieht in Deutschland eine erhebliche Diagnoselücke. Vier von fünf Betroffenen haben nach seinen Angaben keine ärztliche Bestätigung ihres ADHS. „Wobei längst nicht jeder Fall behandlungsbedürftig ist”, schränkt der Medizinprofessor ein.

Andererseits gebe es in Sachen Selbstdiagnose oft viel Lärm um nichts. „Jeder war schon mal unaufmerksam, ungeduldig oder ist anderen ins Wort gefallen”, sagt Reif. Allein Symptome aufzulisten, nütze gar nichts. ADHS-Selbsttests im Internet, die nicht wissenschaftlich basiert sind, wirken auf Reif „total banal oder hanebüchen”.

Wirklich Betroffenen wiederum wird das abwertende Label „Modediagnose” kaum gerecht. Ihr Leidensdruck kann hoch sein. Manche schaffen es nicht, sich auf die wichtigen Dinge in ihrem Leben zu konzentrieren, spüren häufig innere Unruhe, ecken beruflich und privat immer wieder an, reagieren über. „Kirmes im Kopf” nennen einige das. Es sei wie ständig mit Turbo zu fahren und den Motor nicht drosseln zu können.

Im Video: Auch RTL-Reporter von ADHS betroffen

Keine Erkrankung der Moderne

ADHS hat dabei weder etwas mit viel Daddeln am Handy zu tun, noch mit den wachsenden Multitasking-Anforderungen der heutigen Arbeitswelt. Für Reif, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), ist es keine Erkrankung der Moderne. „Sie ist schon vor 300 Jahren beschrieben worden.” Der Unterschied: Bei Schreibtischjobs falle ADHS eher auf als früher bei meist schwerer körperlicher Arbeit in Landwirtschaft, Handwerk oder Industrie.

Lange dachten Mediziner, dass sich die Dopamin-Störung nach der Kindheit auswachse. Doch was fehlte, waren Langzeitstudien. Heute nimmt die DGPPN an, dass ADHS im Erwachsenenalter bei mindestens 60 Prozent der Betroffenen fortbesteht.

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ADHS-Betroffene können sich nicht „einfach selbst organisieren”

Seit 2011 sind ADHS-Medikamente für Erwachsene in Deutschland zugelassen. Im Dezember bestätigte eine Meta-Analyse im Fachjournal «The Lancet Psychiatry», dass die Stimulanzien Amphetamin sowie Methylphenidat und die Arznei Atomoxetin die Kernsymptome bei Erwachsenen meist schnell verringern können. Eine Psychotherapie allein hilft demnach weniger gut, zusammen mit Medikamenten könne sie aber psychische Begleitprobleme eindämmen.

Ein Problem: Die Wartelisten für eine Diagnose bei Fachärzten sind lang, es kann viele Monate dauern bis zu einem Termin. Fachleute wissen auch, was bei ADHS nicht hilft: Berge von Ratgeberliteratur, Orga-Apps und gut gemeinte Tipps wie Wecker stellen, Notizzettel aufhängen und To-do-Listen schreiben. „Es ist kein Nicht-Wollen, es ist ein Nicht-Können”, bilanziert Facharzt Reif. Es ist das Grunddilemma vieler psychischer Erkrankungen. (dpa/ lkö)