Wenn die Müdigkeit zum Gegner wird
Tobias (47) hat Narkolepsie: "Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal ausgeschlafen war"

Der Wecker klingelt um sechs, die Bahn fährt um halb sieben, Arbeitsbeginn um sieben. Der nervige Klingelton macht mich fertig mit seiner Penetranz, der Wecker steht so weit vom Bett entfernt, dass ich aufstehen muss, um ihn auszuschalten. Stünde er in Reichweite, würde ich wahrscheinlich nicht aufstehen, denn ich fühle mich nicht ausgeschlafen. Das geht wahrscheinlich den meisten Arbeitstätigen, die um diese Zeit aufstehen müssen, so, bei mir ist es aber noch eine Spur schlimmer. Ich habe Narkolepsie, umgangssprachlich „Schlafkrankheit“.
Reale, verstörende Albträume

Ich fühle mich direkt nach dem Aufwachen wie gerädert, als hätte ich maximal zwei Stunden geschlafen, dabei bin ich um 22:00 Uhr ins Bett gegangen. Acht Stunden Zeit zu schlafen, eigentlich sollte man da erholt sein. Bin ich aber nicht. Ich bin alle 45 bis 60 Minuten aufgewacht, mein Schlaf ist extrem unruhig. Wenn die Nacht besonders schlimm ist, habe ich während der ersten Stunden extrem unangenehme Albträume.
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Die Albträume laufen stets nach dem gleichen Muster ab, die Szenerie ist ungeheuer real: Ich befinde mich abends in meiner dunklen Wohnung und will schlafen, aber im Treppenhaus sind Einbrecher unterwegs. Ich schalte das Licht ein – es funktioniert nicht. Ich gehe zu meiner Wohnungstür und will abschließen – doch das Schloss ist kaputt. Dann liege ich im Bett, und in meinem Schlafzimmer sind wildfremde Menschen, fassen mich an, zerren an mir, wollen mir etwas Böses.
Ich kann mich nicht wehren, mich nicht bewegen, Realität und Traum vermischen sich, ich kann sie nicht auseinanderhalten. Dazu kommt die Schlaflähmung, ich kann meine Muskeln nicht rühren. Das alles ist extremer Stress für mich, der Schlaf vergebens, es strengt mich mehr an als dass er mich erholt
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Narkoleptiker schlafen nicht mehr als andere
Auch die anderen Stunden sind nicht erholsam. Bei Narkolepsie ist das Wach-Schlaf-Gleichgewicht gestört, der üblicherweise erholsame Tiefschlaf bleibt aus. Ich wache regelmäßig auf und bleibe dann auch erst einmal eine Weile wach. Dieses Defizit holt sich der Körper tagsüber zurück, mit Gewalt, und dann, wann er will: Ich schlaf ein, egal, was ich gerade tue. Außenstehenden mag sich der Gedanke aufdrängen, Narkoleptiker schliefen mehr als andere. Das ist aber nicht der Fall, wir schlafen nur anders.
Im Video: Diagnose Narkolepsie - Katrins Kampf gegen die Müdigkeit
Wachhalten durch Schmerz
Was verursacht dieses Schlafverhalten? Einige Experten vermuten, Narkolepsie sei eine Stoffwechselkrankheit. Aber was löst sie aus? Ich weiß es nicht, einige Mediziner vermuten, dass eine schwere Infektion dahintersteckt (ich hatte mit 16 Jahren heftige Windpocken), andere sagen, es sei eine Autoimmunkrankheit, wieder andere meinen, Narkolepsie sei genetisch bedingt. Aber ich kenne in meiner Verwandtschaft niemanden, der auch darunter leidet. Die Tage, egal ob Arbeit oder Freizeit, gestalten sich gleich: Ich bin dauermüde, schlafe tagsüber das ein oder andere Mal ein, auch wenn ich mich noch so sehr dagegen wehre. Es ist ein aussichtsloser Kampf.
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Bevor ich im Jahr 2000 die Diagnose bekam, war ich mitunter so verzweifelt, dass ich eine Stecknadel dabeihatte und versucht habe, mich durch Schmerzen wachzuhalten. Jetzt bekomme ich Medikamente, die die Tagesschläfrigkeit eindämmen sollen. Auch wenn sie die Schlafattacken nicht zu 100 Prozent verhindern, sie helfen. Ohne die Medikamente befinde ich mich den ganzen Tag in einem Dauertran. Sobald ich mich nicht bewege, fallen mir die Augen zu.
Jeden Tag ein neuer Kampf

Meine Kollegen und Vorgesetzten wissen Bescheid und verhalten sich entsprechend. Ich habe von vornherein gesagt, was mit mir los ist. Ich kann arbeiten, Vollzeit, und das sogar im Schichtdienst. Ich habe von Narkoleptikern gehört, die aufgrund ihrer Krankheit arbeitsunfähig sind. Bei vielen dieser Fälle ist ein Symptom stärker ausgeprägt als bei mir: die Kataplexien, der Verlust der Kontrolle über die Muskeln (wíe bei den Alpträumen geschildert). Kataplexien bekomme ich bei extrem starken Gefühlsregungen wie Ärger, Wut oder Freude. Es fängt oben am Körper an. Zuerst engleisen mir die Gesichtszüge, das Sprechen fällt mir schwer, da ich auch die Zunge nicht mehr richtig bewegen kann, der Kopf sackt auf die Brust.
An dieser Stelle ist meistens bei mir Schluss, doch bei vielen zieht sich eine Kataplexie wie umfallende Dominosteine über sämtliche Muskeln, bis in die Beine und Füße. Am Ende steht der Sturz, ohne die Muskelkraft fallen die Knochen unkontrolliert in sich zusammen. Es sieht extrem dämlich und hilflos aus. Während einer Kataplexie schlafe ich jedoch nicht ein, ich erlebe das bei vollem Bewusstsein. So ein „Komplett-Zusammenbruch“ kommt bei mir zum Glück nur alle zwei bis drei Wochen vor. Aber die Krankheit bleibt anstrengend, auch wenn ich meinen Alltag und auch meinen Beruf einigermaßen gut gemeistert kriege. Jeder Tag ist eine neue Herausforderung und ein weiterer Kampf gegen die Dauermüdigkeit.
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Home Office hat vieles verbessert
Ich hatte mich an diesen täglichen Kampf gewöhnt, irgendwie musste es ja gehen. Dann kam das Jahr 2020, die Pandemie, der erste Lockdown und das Home-Office. Und damit die Chance, mir meinen Arbeitstag so einteilen zu können, wie es für mich am besten ist. Es ist ja nicht so, dass ich von einer Sekunde auf die andere einschlafe. Ich werde müde, die Konzentration lässt nach, und ich merke: Gleich ist es so weit. Ich kann reagieren und mich ins Bett legen. Dort schläft es sich besser als mit dem Kopf auf der Tastatur, die Phasen sind erholsamer und kürzer. Es mag sich seltsam anhören, aber während Corona und der Arbeit im Home-Office hat sich meine Lebensqualität erheblich verbessert, da ich meine Krankheit und mich viel besser managen konnte.
Ich bin ruhiger geworden, entspannter, ich spüre nicht mehr so viel Druck und ich arbeite effektiver. Und ich bin sehr viel zuversichtlicher – auch dann, wenn ich wieder müde werde.
Narkolepsie mit Sport herausfordern

Außerdem habe ich festgestellt, dass ich die Herausforderungen, vor die mich diese Krankheit stellt, am besten mit Sport meistern kann. Ich bin schon immer gerne Rad gefahren, seit der Diagnose ist es von Jahr zu Jahr mehr geworden. Mein persönlich größter Erfolg in diesem immerwährenden Kampf gegen die Krankheit war die Teilnahme an dem Radmarathon Rund um die Mecklenburger Seenplatte am 27. Mai 2016, 309 km am Stück, durch die Nacht in etwas mehr als 14 Stunden. Keine Schlafattacke, keine Kataplexie. Es war ein verdammt gutes Gefühl.