Thorsten Schleif klagt an
Richter rechnet mit deutscher Justiz ab: "Da kommt man sich klein und verloren vor"
30 weitere Videos
Gesetze zu lasch? Richter zu milde?
Das deutsche Justizsystem krankt an allen Enden - und das sagt einer, der es wissen muss. Thorsten Schleif (39) ist seit zwölf Jahren Richter und kritisiert in seinem Buch „Urteil: Ungerecht. Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt“ seinen ganzen Berufsstand und lässt auch am Bildungssystem kein gutes Haar. Was er anprangert, wozu die „Kuschel-Justiz“ führt und was dringend besser werden muss - im Video.
Urteile ohne abschreckende Wirkung
Ein Beispiel: Heiko V. besaß 43.000 kinderpornografische Bilder- und Videodateien, er bestellte die Vergewaltigung eines zehnjährigen Mädchens auf einem Campingplatz in Lügde, sah via Internet live zu, gab Anweisungen und feuerte die Peiniger des Kindes an. Für diesen und mindestens drei weitere Fälle dieser Art wurde er verurteilt - zu zwei Jahren auf Bewährung. Der Mann ist auf freiem Fuß. Urteile wie diese machen sprachlos und haben keinerlei abschreckende Wirkung - weder für den Täter selbst, wieder strafffällig zu werden, noch für andere potentielle Triebtäter.
Ein Urteil, wie es viele gebe, so Schleif. Die Strafen fielen oft zu milde aus, würden zunehmend zur Bewährung ausgesetzt, immer weniger Täter landeten wegen ihrer Vergehen hinter Schloss und Riegel. Woran liegt das? Sind die Gesetze zu lasch? Richter zu milde? Gerichte überfordert? Hier liege es an vielen Stellen im Argen, sagt Thorsten Schleif, der seit fünf Jahren als Strafrichter am Amtsgericht Dinslaken (NRW) arbeitet.
Angst und Unsicherheit bei jungen Richtern
Zunächst einmal hapere es bereits bei der Ausbildung der Richter. Diese vermittele weder praktische noch psychologische Kenntnisse. In Nordrhein-Westfalen durchlaufen angehende Richter lediglich neun Tage Zusatzausbildung, in denen Themen wie zum Beispiel Dezernatsführung, Aussagenanalyse und -bewertung gelernt werden. Er selbst habe den sogenannten "Richterkindergarten" in der Nähe von Recklinghausen erst durchlaufen, als er bereits seit neun Monaten Richter war, erzählt Schleif.
Die mangelhafte Ausbildung führe zu Ängsten und großer Unsicherheit bei den jungen Richtern, die ab Tag eins ins kalte Wasser geworfen würden. Schleif beschreibt einen Fall, in dem ein Kollege in seiner ersten Woche einen Fall in einer Bausache bearbeiten musste, dessen Akte mehr als tausend Seiten stark war. "Mein Kollege ist 1,90m groß und wir haben damals die Akte aus Spaß neben ihn gelegt - die war größer als er", so der Richter. "Dann hatte er ein paar Tage Zeit, sich einzulesen und das Urteil zu sprechen." Streitwert: mehrere Millionen Euro. "Auf beiden Seiten saßen Rechtsanwälte, Fachanwälte für Baurecht, die zusammengerechnet mehr als 50 Jahre Berufserfahrung haben. Da kommt man sich ganz klein und verloren vor - auch im Stich gelassen."
Empfehlungen unserer Partner
Richter Schleif erklärt: Darum fallen Raser-Urteile so unterschiedlich aus
30 weitere Videos
Bearbeitungszeiten werden länger, Urteile schlechter
Zudem sei die Arbeitsbelastung extrem hoch und/oder sehr ungleich verteilt, die Personaldecke werde über alle Ebenen immer weiter ausgedünnt, heißt, auch bei den Staatsanwälten und der Polizei gibt es eklatante Engpässe. Er selbst habe in seiner Anfangszeit als Richter phasenweise 80 bis 90 Stunden gearbeitet - sieben Tage die Woche. Ist ein Richter krank, bleibt die Arbeit liegen, dazu kommen noch die Fälle, die in der Zeit neu aufgelaufen sind. Überstunden abbummeln gibt es nicht. "Wir stempeln nicht, die Arbeit muss erledigt werden", sagt Schleif.
Zudem kreise der Rotstift, Kürzungen seien an der Tagesordnung. Manche Richter müssen selbst Protokoll führen, haben keine Kanzleikraft mehr und es fehle an Wachtmeistern. Die Folge: „Bearbeitungszeiten werden zunehmend länger, die Urteile zunehmend schlechter.“ Es gebe Kollegen, die „abgesoffen“ sind und zum Teil ein Jahr Vorlaufzeit hätten. Mit fatalen Folgen - zum Beispiel in puncto Untersuchungshaft. Nach sechs Monaten U-Haft muss diese zwingend vom Oberlandesgericht überprüft werden. Doch dieser Zeitraum ist oft nicht ausreichend und so passiere es, dass ein Haftbefehl aufgehoben, ein Beschuldigter aus der U-Haft entlassen wird, „weil das Gericht unterbesetzt ist“.
Viele Richter haben Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen
An den Gesetzen hapere es nicht, dass Urteile milde ausfallen oder zur Bewährung ausgesetzt werden. In manchen Fällen wieder und wieder. „Es fehlt uns nicht an härteren Gesetzen, es fehlt uns an Menschen, die die Gesetze mit aller Konsequenz anwenden. Viele Kollegen vermeiden die Entscheidung aus Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, gerade am Anfang", so der Richter. "Wann kriegt schon mal jemand, der wegen des Besitzes von Kinderpornografie vor Gericht steht, drei Jahre? Oder auch nur zwei Jahre? Das ist die absolute Ausnahme."
Richter scheuten sich schlicht davor, die volle Härte des Gesetzes auszuschöpfen. „Es ist durchaus ein gewisses Selbstbewusstsein dafür erforderlich, um jemandem keine Bewährungsstrafe mehr zu geben", meint Thorsten Schleif. "Sie wissen: Sie tragen die Verantwortung dafür, dass jemand ins Gefängnis geht. Das ist kein schönes Gefühl und es gibt viele Menschen, die da sitzen und mit denen man Mitgefühl hat. Trotzdem hilft es nicht, Strafen immer wieder zur Bewährung auszusetzen. Strafen, die immer wieder zur Bewährung ausgesetzt werden, schrecken nicht ab.“
Bürger verlieren Vertrauen in die Justiz
Wie weit diese Vermeidungstaktik führt, illustriert das folgende Beispiel recht anschaulich. Im Richterjargon gebe es den Begriff der „Schiebeverfügung“. Schleif übersetzt: „Wie kann ich eine Akte so bearbeiten, dass ich selbst nicht entscheiden muss?" So erteilten Richter beispielsweise noch einmal einen Hinweis zu einer Nebensächlichkeit, um „die Akte auf diese Woche nochmal drei, vier Wochen" los zu sein. Davon werde „aus Notwehr“ gerade von jungen Richtern häufig Gebrauch gemacht.
Eine solche Praxis habe eine fatale Außenwirkung auf die Gesellschaft. Kriminelle nehmen das Rechtssystem nicht mehr ernst, wenn Täter scheinbar ungeschoren davonkommen. „Ich bin besorgt, weil der Bürger das Vertrauen in die Justiz verliert. Was ist eine Justiz noch wert, die keine Urteile mehr schreibt? Die ihre Aufgaben nicht mehr erfüllt und stattdessen sagt: ich bin nicht fertig geworden.“ Einer Umfrage zufolge hätten 44 Prozent kaum oder wenig Vertrauen in die Justiz. „Das ist inakzeptabel."
Riesige Pensionierungswelle steht bevor
Eine Situation, die sich in den kommenden Jahren noch verschärfen wird. „Uns steht die größte Pensionierungswelle bevor, seit es in Deutschland überhaupt Gerichte gibt. In den nächsten zehn Jahren werden 40 Prozent nicht nur der Richter, sondern auch der Staatsanwälte pensioniert“, sagt Schleif. Eine riesige Lücke, die nicht gefüllt werden könne, weil es zu wenig Bewerber gebe.
Ein Anreiz für Neulinge könnte eine bessere Entlohnung für Richter sein. 40.000 Euro brutto verdient ein Berufsanfänger als Richter - in einer Großkanzlei könne man als Jurist dagegen 140.000 Euro brutto einstreichen. Auch die Arbeitszeiten seien dort attraktiver. Zudem plädiert Schleif für eine grundlegende Reform der Gerichtsverwaltung: Gerichte sollten sich selbst verwalten und endlich unabhängig von der Exekutive, das heißt vom Justizministerium, werden.