Angesehener Arzt mit dunklem Doppelleben
Ex-Chirurg nach Missbrauch von 299 Kindern zu 20 Jahren Haft verurteilt

Er galt als angesehener Arzt – doch über Jahrzehnte missbrauchte Joël Le Scouarnec hunderte Kinder.
Der frühere Chirurg ist wegen des sexuellen Missbrauchs von 299 meist minderjährigen Patienten zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Das Gericht im westfranzösischen Vannes folgte damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verhängte die größtmögliche Strafe.
Kinder unter Narkose oft ohne Erinnerung
Le Scouarnec hatte die Taten über einen Zeitraum von 25 Jahren hinweg begangen, zwischen 1989 und 2014. Seine Opfer waren im Schnitt elf Jahre alt, viele unter Narkose. Der heute 74-Jährige gestand alle angeklagten Fälle, die er im Operationssaal, auf den Patientenzimmern und in den Klinikfluren begangen hatte. Insgesamt sollen sich die Taten in vier westfranzösischen Krankenhäusern ereignet haben, in denen er als Chirurg tätig war.
Die Staatsanwaltschaft zeichnete das Bild eines Mannes, der seine ärztliche Autorität systematisch missbrauchte. Der Angeklagte habe „keinerlei Empathie” gezeigt und sich an Patienten vergangen, „die nicht einmal begriffen, dass sie Opfer wurden”. Teilweise habe er den Missbrauch als medizinische Untersuchung getarnt
Die Zahl der tatsächlichen Opfer sei vermutlich noch höher, betonte der Staatsanwalt. Aus prozesstaktischen Gründen habe man sich zunächst auf 299 Fälle konzentriert. Ein Folgeprozess ist bereits geplant.
Schon 2005 wegen Kinderpornografie verurteilt, doch weiter als Arzt tätig
Besonders verstörend: Le Scouarnec war bereits 20025 wegen Besitzes von Kinderpornografie verurteilt worden, allerdings auf Bewährung. Dennoch konnte er weiter operieren. Der Verteidiger sprach von einem „großen kollektiven Versagen unseres Gesundheitssystems”. Hinweise auf sein Fehlverhalten seien jahrelang ignoriert oder bagatellisiert worden.
Auch die französische Ärztekammer räumte im Prozess eigene Versäumnisse ein. Viele fragen sich nun: Wie konnte dieser Mann über Jahrzehnte unbehelligt weitermachen? Eine 36-jährige Frau, selbst Opfer des Arztes, brachte die Wut vieler auf den Punkt: „Wie hat Doktor Scouarnec 30 Jahre lang praktizieren können, wie hat man ihn seinen Gang gehen lassen können, wieso hat das niemand gewusst?”
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Fotos, Tagebücher und ein Missbrauch in der Familie
Erst 2017 brachte eine Anzeige die Ermittlungen ins Rollen. Eine Nachbarin beschuldigte Le Scouarnec, ihre sechsjährige Tochter missbraucht zu haben. Ermittler durchsuchten daraufhin das Haus des Arztes und stießen auf eine erschütternde Beweislast: Rund 300.000 Bilder von Kindesmissbrauch sowie Tagebücher, in denen der Chirurg seine Taten detailliert dokumentiert hatte.
Mit Hilfe dieser Notizen konnten die Behörden weitere Opfer identifizieren, viele von ihnen wussten bis dahin nichts von dem, was ihnen angetan worden war.
Vor Gericht gestand Le Scouarnec nicht nur die Klinik-Taten, sondern auch einen weiteren Übergriff: Er habe sich an seiner zweijährigen Enkelin vergangen, räumte er überraschend ein.
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„Ich habe abscheuliche Taten begangen”
Zum Auftakt des Prozesses trat der Mann, der sein Umfeld jahrzehntelang täuschen konnte, ruhig und unscheinbar auf. Seine Worte waren kurz, aber unmissverständlich: „Ich habe abscheuliche Taten begangen. Ich muss die Verantwortung für meine Taten tragen und die Konsequenzen für die Opfer, die sie ihr Leben lang haben werden.”
Für viele Opfer kommt dieses Eingeständnis zu spät. Zahlreiche Betroffene berichteten im Prozess von lebenslangen Folgen in Form von posttraumatischen Störungen, körperlichen Beschwerden und Schuldgefühlen. Manche hätten die Wahrheit erst erfahren, als die Polizei sie kontaktierte.
Mit dem Urteil ist der größte Missbrauchsprozess in der französischen Geschichte vorerst abgeschlossen. Doch die gesellschaftliche Aufarbeitung hat erst begonnen. (kra, mit dpa)