Ukrainischer Soldat berichtet von der Front
"Wir werden mit Steinen und Stöcken kämpfen. Aber wir werden nicht kapitulieren“

Am 24. Februar hat der russische Präsident Wladimir Putin den Angriffskrieg auf die Ukraine angeordnet. Zu diesem Zeitpunkt war Vitali B. noch als Handelskaufmann aktiv. Doch an diesem Tag ändert sich alles: Der 31-jährige Ukrainer muss seinen Job ruhen lassen und verteidigt nun sein Heimatland gegen die russischen Invasoren. Zur Not sogar „mit Steinen und Stöcken“.
Die Familie ist in Sicherheit
Knapp acht Monate dauert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nun schon an. Seine Familie hat Vitali seither höchstens via Videotelefonie gesehen. Seine Frau und die gemeinsame einjährige Tochter haben die Ukraine frühzeitig verlassen: „Als der Krieg ausbrach, gingen sie, um in Sicherheit zu sein“, erzählt er im RTL-Interview.
Sie halten sich momentan in Norwegen auf. Wenn sich die Möglichkeit ergibt, telefonieren sie täglich. In den kommenden Tagen werden die Telefonate aber vermutlich seltener. Nach übereinstimmenden Medienberichten soll die Ukraine offenbar eine größere Operation in der Region Cherson vorbereiten.
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Vor ukrainischer Gegenoffensive: Vitalis Heimat wird derzeit evakuiert
Vitali B. stammt aus der Region Cherson. Genauer gesagt: aus dem Bezirk Beryslaw an der Nordseite des Flusses Dnjepr. Die Gegend gilt derzeit als eine der am meisten umkämpften Regionen in diesem Krieg. Die Angreifer befinden sich auf dem Rückzug, ukrainische Soldaten wie Vitali rücken langsam in die Großstadt vor, die derzeit von den russischen Besatzern evakuiert wird.
Vor dem Krieg lebten schätzungsweise knapp 300.000 Einwohner in Cherson. Wie hoch die Zahl aktuell ausfällt, ist nicht überliefert. Erst im Dezember hatte Russland die Cherson gemeinsam mit drei weiteren Regionen in Schein-Referenden annektiert. International wurden die Annexionen von der Mehrheit der Staaten nie anerkannt. Einzig Russland, Belarus, Nordkorea, Syrien und Nicaragua akzeptieren annektierte Gebiete als festen Bestandteil des russischen Staatsgebietes.
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Zugehörigkeit zu Russland nicht erwünscht, Kapitulation ausgeschlossen
Die Frontlinie verändert sich fast täglich. Vitali ist bei der ukrainischen Gegenoffensive an vorderster Front mit dabei. Als Unteroffizier kämpft er in einem 500-Mann-starken Bataillon für die Rückgewinnung von Regionen wie Cherson. „Die Menschen wollen, dass es die Ukraine gibt. Die Menschen wollen nicht Teil Russlands werden, und die Menschen wollen, dass wir unser eigenes Land haben“, sagt er. Vitali meldete sich kurz nach der Invasion Russlands in einem der hiesigen Rekrutierungsbüros des ukrainischen Militärs. So wie tausende wehrdienstfähige Ukrainer auch.
„Wir kämpfen für eine Idee“, erklärt der 31-Jährige. In Hinblick auf die russische Teilmobilmachung erkennt Vitali entscheidende Unterschiede: „Wir kämpfen für unser Land, sie kämpfen für Geld. Und Geld ist nicht die Motivation. Wir kämpfen für eine Idee.“ Darum, so erzählt es der Unteroffizier, will die Ukraine kämpfen „bis Russland seine Truppen abzieht. Bis Russland kapituliert“. Eine Kapitulation der Ukraine schließt Vitali B. aus: „Wenn es sein muss, werden wir mit Steinen und Stöcken kämpfen. Aber wir werden nicht kapitulieren.“
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Hohe Verluste bei den Ukrainern, höhere Verluste beim russischen Militär
Bisher hat die russische Teil-Mobilmachung noch keine nennenswerten militärischen Erfolge für die Invasorenseite geliefert. Eine Vielzahl gefallener Soldaten beklagen aber beide Seiten. „Es ist wie überall im Krieg. Wir haben Verluste, aber auch die Russen. Ich denke, sie haben noch viel mehr Verluste als wir“, erzählt Vitali. Angst davor, im Krieg zu fallen, hat er nicht: „Wenn ich mein Leben für dieses Land geben muss, dann bin ich bereit.“
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Bis an die Grenze und nicht weiter
Während seines Kampfeinsatzes hat der ehemalige Handelskaufmann gemeinsam mit seinem Bataillon verschiedene vom russischen Militär besetzte Orte wieder befreit. Er berichtet davon, dass die Bewohner seine Männer mit Wasser und Nahrung versorgt haben, sie umarmten und weinten. „In diesen Momenten verstehen wir, dass es alles nicht umsonst ist – alles, wofür wir kämpfen“, sagt Vitali.
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Auch über den Fall, dass die Ukraine die besetzten Gebiete zurückerobert, hat sich der Unteroffizier bereits Gedanken gemacht. Mit weiteren Offensiven sei laut Vitali nicht zu rechnen: „Wir brauchen Russland nicht, wir kämpfen nur für unser eigenes Land. Wir werden an die Grenze gehen und brauchen ihr Land nicht.“ Bis dahin wird vermutlich noch einige Zeit verstreichen. Zeit, in der er mit seiner Familie nur per Telefon kommunizieren kann. Sehen werden sie sich vorerst nicht – so wie seit knapp acht Monaten schon.
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