"Jeder Extra-Tag ist für mich wie ein Lotto-Gewinn"
Seltene Nervenkrankheit: Warum Janett (55) nicht mehr unter Menschen sein kann
von Vera Dünnwald
„Jeder Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde ist anders. Bei mir ist nicht ein einziger Tag schön. Ich kann nie planen und weiß nie, was am nächsten Tag auf mich zukommt“: Janett Werrmann ist schwer krank, sie hat eine Erbkrankheit namens Charcot-Marie-Tooth. Besonders betroffen sind die Nerven, die immer mehr verkümmern, aber auch Janetts Muskeln sind beeinträchtigt. Deswegen ist die 55-Jährige im Alltag stark eingeschränkt, hat die Kontrolle über ihren Körper fast vollständig verloren. Ein Medikament, das ihr Leid mindert und ihre Schmerzen stoppt gibt es nicht, so selten ist ihre Krankheit.
Nervenkrankheit CMT wirkt sich auf Werrmanns Gehirn aus: "Kann kaum noch unter Menschen sein"
Ständig habe sie Schmerzen ohne Ende – Janett Werrmann aus Bad Lausick in Sachsen beschreibt ihre Krankheit im RTL-Interview als „bösartig“. Was genau hat es mit Charcot-Marie-Tooth auf sich?
Dr. Zoya Ignatova, Biochemikerin und Molekularbiologin an der Universität Hamburg, erklärt im RTL-Interview: „Charcot-Marie-Tooth ist eine seltene, neurogenetische Erkrankung, die immer auf einen Gendefekt zurückzuführen ist, aber nicht tödlich endet. In Deutschland geht man von ungefähr 30.000 Patienten aus, wobei die Dunkelziffer wahrscheinlich höher ist. Häufig tritt die Erkrankung erst im Erwachsenenalter auf.“
Die Krankheit gehört zu den Hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien, abgekürzt vor allem bekannt als HMSN. Werrmann ergänzt: „Bei CMT gibt es die Typen 1 bis 7. Ich habe den Typ 4b2, den ich von meinen Eltern vererbt bekommen habe, weil beide den Gendefekt in sich tragen. Die Krankheit beinhaltet, dass sich die Myelinschicht, von der die Nerven umgeben sind, zurückbildet.“
Bei ihr seien vor allem die Nerven im Hirn betroffen, die überempfindlich und hochsensibel sind. Deswegen sind ihre Sinne, zum Beispiel das Sehen, Riechen und Hören, enorm beeinträchtigt. „Man muss sich das so vorstellen: Ins Restaurant kann ich nicht mehr gehen, weil meine Sinne ALLES aufnehmen. Sehen, hören und riechen in Kombination – wenn mein Hirn das alles umsetzen muss, ist das einfach zu viel. Daher kann ich kaum noch unter Menschen sein.“
Wenn die Myelinschicht wie bei gesunden Menschen in Ordnung ist, gebe sie Impulse weiter, so Werrmann. Bei ihr funktioniere das aber nicht: „Bei mir werden sie mehrfach weitergegeben. Dadurch sind mein Gehirn und mein Körper erschöpft und nicht mehr leistungsfähig, kommen einfach nicht mehr hinterher.“ Es komme zu Gedächtnisstörungen und Sprachproblemen, außerdem zu einer Sehstörung. Wenn es hart auf hart kommt, könne diese irgendwann sogar bis zur Erblindung führen. Weil ihre Augennerven so empfindlich sind, kann Werrmann das Haus nicht mehr ohne Sonnenbrille verlassen.
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So macht sich die seltene Erkrankung bei der 55-Jährigen bemerkbar
CMT sei schwer diagnostizierbar, erklärt die 55-jährige Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Der Grund: Es gibt einfach zu viele Typen und zu viele Unterschiede bei den Symptomen. Auch Dr. Ignatova sagt: „Der Krankheitsverlauf ist sehr individuell.“ Bei jedem Betroffenen ist die Krankheit anders ausgeprägt.
Werrmann kommt das bekannt vor: „Ich zum Beispiel habe nicht den für die Krankheit typischen Hohlfuß, sondern einen Plattfuß. Trotzdem kann ich an manchen Tagen laufen, an manchen wiederum nicht. Da kann ich mich dann nicht mal aus dem Bett bewegen und bin auf einen Rollstuhl und Hilfe von außen angewiesen. Ich weiß nie, worauf ich mich einstellen muss.“
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Bei ihr habe sich die Krankheit zwar schon im Kindesalter bemerkbar gemacht, aber erst mit 47 Jahren sei sie vollständig ausgebrochen: „Ich konnte als Kind schlecht laufen oder rennen, in der Schule fiel mir alles schwerer mit dem Denken und springen konnte ich auch nicht gut, weil ich meine Beine einfach nicht hochbekommen habe.“
Heute zählen zu ihren weiteren Symptomen auch die charakteristischen Nervenschmerzen und Schwindel: „Ich merke das. Das fühlt sich an wie Messerstiche. Und ich merke, dass meine Beine nicht funktionieren. Einmal stand ich vor einer Tür und bin zusammengesackt, von einem auf den anderen Moment, weil der Blutdruck es nicht mehr geschafft hat. Ich bin einfach weggekippt.“
Häufig habe sie rauschende Ohren und einen nervtötenden Tinnitus. Wenn es draußen regnet, hört Janett Werrmann das schon gar nicht mehr.
"Die Ärzte sagen, man kann trotz der Erkrankung alt werden. Aber wie?"
Selbst im Sitzen sei ihr Körper überfordert. Werrmann erzählt, dass ihre Hirnnerven quasi „durchbrennen“ würden. Dadurch brauche sie viel Ruhe. Das Schlimme: Die Krankheit gehe extrem schnell voran. „Für uns Betroffene ist jeder Monat, den wir mehr haben, gewonnene Zeit. Das kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen. Jeder Extra-Tag ist für mich wie ein Lotto-Gewinn.“
Gerade deswegen liegt ihr am Herzen, auf die seltene Krankheit aufmerksam zu machen und ihre Mitmenschen zu sensibilisieren: „Wir brauchen nicht nur generell ein Medikament, sondern wir brauchen es schnell.“ Die Krankheit werde laut der 55-Jährigen enorm unterschätzt: „Das geht wirklich schnell. Mittlerweile habe ich Pflegestufe drei, bin gehbehindert und ich weiß nicht, wo die Reise noch hingeht. Die Ärzte sagen, man kann trotz der Erkrankung alt werden. Aber wie? Wenn man täglich mit solchen Einschränkungen leben muss, was ist das dann noch für eine Lebensqualität? Ich wollte eigentlich die ganze Welt sehen!“
Für sich und andere Betroffene: Janett Werrmann hofft auf ein Medikament
Ein Dreivierteljahr dauert es, bis Janett Werrmanns CMT-Erkrankung diagnostiziert wird. Obwohl die Erkrankung eindeutig genetisch ist, habe es trotzdem einige Ärzte gegeben, die ihre Zweifel hatten, so die Sächsin. „Manche sagten mir, es sei psychosomatisch.“
Hätte die 55-Jährige vorher gewusst, dass sie einen Gendefekt hat, hätte sie keine Kinder bekommen, offenbart sie im RTL-Interview: „Bei mir wurde die Krankheit erst spät entdeckt, da wusste ich das ja alles noch nicht, sonst hätte ich keine Kinder bekommen. Auch wenn ich sie natürlich trotzdem liebe.“ Ihre Kinder sind jetzt 34 und 35 Jahre alt. Ob sie das defekte Gen in sich tragen, weiß niemand. „Sie wollen es nicht wissen. Sie sagen, sie sind gesund und wollen sich nicht verrückt machen lassen.“
Ihre Hoffnung setzt Werrmann in die Forschung: „Auch wenn noch immer nicht viel über Charcot-Marie-Tooth bekannt ist, tut sich gerade einiges. Es laufen einige Studien und es geht voran. Aber es fließen noch zu wenig Gelder in die Forschung. Ich möchte mich für alle Betroffene starkmachen. Wir quälen uns. Und wir wollen ein Medikament haben, was die Krankheit aufhält.“
Was Sie über Charcot-Marie-Tooth wissen müssen
Zu den ersten CMT-Symptomen, die auftreten können, zählen Muskelschwäche, Muskelschwund und Muskelkrämpfe. Besonders betroffen sind dabei die Extremitäten, sprich Hände und Füße. Warum? „Es handelt sich dabei um die Stellen, die am weitesten vom Hirn entfernt sind und somit von den längsten Nervenzellen im Körper, wenn beschädigt, nicht gut kontrolliert werden können“, erklärt Dr. Ignatova.
Charcot-Marie-Tooth wird in drei Typen unterteilt: CMT 1, CMT 2 und DI-CMT.
Bei CMT 1 ist die Myelinschicht beeinträchtigt – so wie im Fall von Janett Werrmann. „Die Nerven sind quasi nackt und die Übertragung der Nervenimpulse wird gestört. Dadurch sterben die Nerven irgendwann ab. Durch das Absterben der längsten, motorischen Nervenzellen – wie zum Beispiel die, die von der Wirbelsäule bis zum Fuß verlaufen – ist die Kommunikation zum Gehirn unterbrochen, es wird keine Muskelmasse mehr gebildet und auch Bewegungsimpulse werden nicht weitergeleitet. Heißt am Ende: Betroffene können sich kaum noch bewegen. Daher auch die Beeinträchtigung der Füße bei CMT-Patienten.“
Doch die Medizinerin macht Mut: Auch wenn es bei CMT bislang weder Therapie noch Medikamente, sondern lediglich lindernde Maßnahmen gegen die Schmerzen gebe, seien bereits positive Erfahrungen mit RNA-basierten Impfstoffen zu verzeichnen. „Es ist zu keinen toxischen Effekten gekommen. Ich bin sehr optimistisch was das angeht, es gibt immer mehr Firmen, die entsprechende RNA-basierte Medikamente für Patienten mit erblichen Krankheiten entwickeln wollen. Aber wir müssen uns noch gedulden, es braucht noch viele Tests und Studien, mit einem Minimum von fünf Jahren ist auf jeden Fall zu rechnen.“
Ihr Tipp: CMT-Patienten, die in ihrer Bewegung noch nicht allzu eingeschränkt sind, sollten sich viel bewegen und spazieren gehen. Das zögere die Degeneration der Muskeln etwas hinaus. Neben der Bewegung sei auch eine gesunde Ernährung, bei der die Muskeln gestärkt werden, empfehlenswert.
Ansonsten gilt: „Wenn Sie merken, dass Sie unter Muskelschwäche leiden oder oft Krämpfe haben, sollten Sie das von einem Arzt abklären lassen, getreu dem Motto: Je schneller desto besser.“