„Karl Lauterbach sollte ein Praktikum bei uns machen“ Dieser Pflegedienst kann sich vor Bewerbungen kaum retten
In ganz Deutschland werden motivierte Pflegekräfte gesucht. In ganz Deutschland?
Im rheinland-pfälzischen Worms kann sich die Leiterin eines mobilen Pflegedienstes vor Bewerbungen kaum retten. Nach frustrierenden Jahren im kräftezehrenden Schichtdienst macht sich die Wormserin selbstständig. Seitdem setzt sie als Chefin unter anderem auf flexible Arbeitszeiten – und wird von Bewerbern überrannt!
Ajla Crnalic will Pflege anders machen
Der Arbeitstag beginnt mit belegten Brötchen, frischem Obst und Kaffee. Dieser Start ist für Ajla Crnalic, Geschäftsführerin eines mobilen Pflegedienstes, und ihr Team ein festes Ritual – Kraft tanken für einen meist langen und Kräfte zehrenden Arbeitstag.

Bevor Ajla ihren eigenen mobilen Pflegedienst ins Leben rief, arbeitete sie selbst mehrere Jahre in der Pflege. Deswegen weiß sie genau, was den Pflegeberuf für viele so unattraktiv macht: anstrengende Schichtarbeit, kaum Anerkennung und wenig Entwicklungsmöglichkeiten. In ihrem eigenen Unternehmen, das sie mit ihrem Mann zusammen führt, möchte sie deshalb neue Wege gehen, wie sie uns erzählt.
Der Start in die Selbstständigkeit war allerdings nicht einfach: Mit wenig Kapital in der Tasche wollte keine Bank Ajla Crnalic einen Kredit geben. So steckte sie kurzerhand jeden verdienten Cent aus ihrer freiberuflichen Tätigkeit in ihr Herzensprojekt. Doch jeden Tag stellte sich Ajla diesen Herausforderungen und macht das auch noch heute. Sie selbst sagt: „Die größten Erfolge entstehen oft aus den mutigsten Entscheidungen, die wir im Leben treffen.”
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Mitbestimmung für Pflegepersonal: Es geht um viel mehr als Geld
Kind und Beruf unter einen Hut zu bekommen, ist im Wormser Pflegedienst kein Problem. Viele Pflegekräfte sind Mütter, die meisten davon alleinerziehend. Für Ajla, die selbst Mutter ist, stand von Anfang an fest: Sie möchte etwas anders machen. Sie sagt deutlich: „Wir fahren das System gegen die Wand, wenn wir weitermachen wie bisher.“

Gemeint sind starre Dienstpläne und fehlendes Mitspracherecht. Deshalb schreiben die Mitarbeiter ihren Dienstplan in ihrem Unternehmen ganz einfach selbst. Wann hat die Oma Geburtstag, wann steht ein Arzttermin an? So werden die Arbeitszeiten flexibel an den Alltag der Mitarbeiter angepasst.
So viel Vertrauen war für die Pflegekräfte zunächst ungewohnt, doch genau darauf setzt Ajla: Eigenverantwortung und Mitbestimmung. Der flexible Dienstplan ist bislang einzigartig in der Pflegebranche – nur eine der kleinen Stellschrauben, die den Mitarbeitern aber eine enorme Last von den Schultern nimmt.
Und genau das erzeugt Zufriedenheit und Motivation im Team und darüber hinaus. Denn als der mobile Pflegedienst Verstärkung sucht, trudeln über 230 Bewerbungen ein – von Fachkräftemangel keine Spur! Auch hier ist Mitbestimmung die Devise: Nur wer das Team überzeugt und beim Probearbeiten mit anpackt, darf am Ende einen Arbeitsvertrag unterzeichnen.
Der Nachwuchs wird über soziale Medien erreicht
Mehr als 70.000 Follower verfolgen täglich, wie die Leiterin des mobilen Pflegedienstes ihre Branche revolutionieren möchte und das auch schon aktiv tut. Mit Leidenschaft erzählt die 36-Jährige über ihren Beruf und möchte so den Nachwuchs für die Pflege begeistern. Zeitgleich nutzt sie ihre Präsenz auf Instagram aber auch, um auf Missstände hinzuweisen.
Um anderen Pflegediensten aus der Misere zu helfen, reist die Wormserin mittlerweile durch ganz Deutschland und berät andere Einrichtungen, wie sie Prozesse optimieren und Mitarbeiter motivieren können.
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„Ich brauche Mitarbeiter, die verändern wollen"
Dennoch gibt es Momente, die Ajla Crnalic viele Nerven kosten. Rahmenbedingungen, die es erschweren, Patienten das zu geben, was sie benötigen – Zuneigung. Jeder Cent ist fest verplant, das Budget gedeckelt. Ausbrechen, etwas anders machen, kostet Kraft. Das Problem: Pro Patient bleiben einem Pflegeteam am Ende nur drei bis fünf Minuten. Die Mitarbeiter bleiben aber häufig 15 Minuten und länger, weil sie sich die Zeit nehmen wollen. Der Haken: Die Krankenkassen bezahlen nur einen kurzen Stopp, Extras werden nicht vergütet.
„Du musst Soldaten ausbilden und keine Pflegekräfte, die bereit sind, gegen Missstände anzukämpfen“, sagt Ajla Crnalic. Viele Pflegedienste kämpfen um ihre Existenzen und das nicht wegen fehlender Patienten, sondern wegen komplizierter Abrechnungsverfahren mit den Krankenkassen. Denn bis die erbrachte Leistung durch die Krankenkassen bezahlt wird, dauert es oft mehrere Monate.
Für Ajla Crnalic bedeutet das: in Vorkasse gehen und auf Rücklagen zurückgreifen – Rücklagen, die kaum vorhanden sind. Über Geld und Zahlen spricht die Geschäftsführerin transparent mit ihrem Team, damit alle wissen, woher ihr Geld kommt.
Einen Wunsch hat die Leiterin aber: Sie würde Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gerne zu einem bezahlten Praktikum einladen, damit sich die Politik ein reales Bild von den Bedingungen vor Ort machen kann.
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„Fachkräftemangel, eine Lüge – Pflegepersonal im Überfluss“
Dass immer wieder von Fachkräftemangel in der Pflegebranche gesprochen wird, macht die Leiterin wütend. Sie selbst sieht das Problem vielmehr in fehlender Kommunikation, Wertschätzung und mangelnder Führung. Ihre provokanten Thesen hält sie in ihrem Buch, mit dem Titel „Fachkräftemangel, eine Lüge – Pflegepersonal im Überfluss“, fest.
Ende November letzten Jahres wurde die 36-Jährige für ihr zukunftsträchtiges Handeln im prestigeträchtigen „Vier Jahreszeiten Hotel” ausgezeichnet. Die Urkunde trägt den Titel „Top 111 Upcoming Personal Brands 2024“. Damit gehört sie offiziell zu den 111 einflussreichsten Personal-Brands in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
„Ich habe mein Herz an die alten Menschen verloren“
Wenn Ajla Crnalic von ihrem Schreibtisch wegkommt, fährt sie selbst zu ihren Patienten. Die kurzen Begegnungen geben ihr viel und zeigen ihr, warum sie diesen Job gelernt hat. „Einen Patienten zum Lachen bringen, etwas Schöneres gibt es nicht.“
Diese Leidenschaft möchte die Pflegedienstleiterin weitergeben. Deshalb lädt sie immer wieder Schülerpraktikanten zu sich nach Worms ein. Ein Konzept, das das Wormser Pflegeteam einzigartig macht und so den Fachkräftemangel gekonnt umgeht.