„24 Stunden Schmerzen“: Betroffene erzählen von ihrem LeidenswegDiagnose Lipödem: Wann Krankenkassen die Kosten übernehmen

PRODUKTION - 14.02.2024, Niedersachsen, Bissendorf: Tanja Degner steht in ihrem Wohnzimmer. Die Frau leidet an Lipödem. Die gravierende chronische Erkrankung trifft fast ausschließlich Frauen. Eine fortschreitende Fettverteilungsstörung führt oft zu massiver Volumenzunahme vor allem an Armen und Beinen, geht meist einher mit starken Schmerzen, Hämatom-Neigung und psychischer Belastung.  (zu dpa: «Verbreitet und doch oft unerkannt: Fettgewebeerkrankung Lipödem verursacht schweres Leid») Foto: David Inderlied/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit der aktuellen Berichterstattung und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits +++ dpa-Bildfunk +++
Lipödem-Patientin Tanja Degner kämpft seit über zwanzig Jahren gegen die Schmerzen ihres Lipödems.
ind, dpa, David Inderlied

Bis zur richtigen Diagnose vergehen oft wertvolle Jahre.
Tanja Degners Alltag ist geprägt durch Schmerzen, verursacht durch ihr Lipödem. Die chronische Fettverteilungsstörung führt oft zu massiver Volumenzunahme vor allem an Armen und Beinen, geht meist mit großen Schmerzen einher. Für Tanja Degner war es ein langer Leidensweg, bis Ärzte ihre Krankheit endlich ernst genommen haben. In welchen Fällen Kassen die Kosten einer helfenden Operation übernehmen – hier erfahrt ihr es.
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Starke Gewichtszunahme nach der Geburt ihres Sohnes

Tanja Degners Geschichte beginnt im Jahr 2000, nach der Geburt ihres Sohnes. „Ich hatte geschwollene Fußknöchel, schwere, schmerzende Beinen, habe stark zugenommen“, erzählt die heute 52-Jährige. „Meine Hausärztin sagte, ich solle weniger essen.“ Sie habe es mit einer Diät von täglich unter 1.000 Kilokalorien versucht, dennoch seien Umfang von Beinen und Arme und ihr Gewicht weiter angewachsen. „Die Schmerzen haben zugenommen, ich hatte Hämatome, konnte keine Berührung aushalten.“

Ein TV-Beitrag bringt sie auf die Spur, sie sucht den erwähnten Mediziner auf. „Nach einem wahren Ärzte-Marathon und 14 Jahren mit extremer Gewichtszunahme und starken Beschwerden habe ich dann endlich die richtige Diagnose bekommen“, schildert Tanja Degner. „Der Weg bis zur Diagnose ist für viele Frauen voller Stolpersteine.“

PRODUKTION - 14.02.2024, Niedersachsen, Bissendorf: Blick auf die Kniekehlen einer Frau, die an Lipödem leidet. Die gravierende chronische Erkrankung trifft fast ausschließlich Frauen. Eine fortschreitende Fettverteilungsstörung führt oft zu massiver Volumenzunahme vor allem an Armen und Beinen, geht meist einher mit starken Schmerzen, Hämatom-Neigung und psychischer Belastung. (zu dpa: «Verbreitet und doch oft unerkannt: Fettgewebeerkrankung Lipödem verursacht schweres Leid») Foto: David Inderlied/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit der aktuellen Berichterstattung und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits +++ dpa-Bildfunk +++
Schmerzhaft und belastend für Betroffene: Beine mit einem Lipödem.
ind, dpa, David Inderlied

Manche Frauen haben ein Lipödem und Adipositas

Tobias Hirsch, Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie am Uniklinikum Münster, spricht von einem „Diagnose-Gap“ von oft rund 20 Jahren, bis ein Lipödem richtig erkannt werde. „Wir wissen zu wenig über diese Krankheit und was genau im Körper passiert.“

Klare Zahlen zu Betroffenen gebe es nicht, die Dunkelziffer sei hoch. Unstrittig: „Ein relevanter Teil der weiblichen Bevölkerung ist betroffen.“ Es gebe wenig spezialisierte Ärzte, bei denen es zu extremen Wartezeiten komme. „Wir gehen von einer genetischen Veranlagung und hormonellen Triggern aus, und dass das Lipödem in hohem Maße Diät-resistent ist.“ Trotzdem spiele Ernährung eine Rolle. Manchmal komme Adipositas noch obendrauf.

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Experte: Schmerzen sind das „zentrale Symptom“

Das Lipödem wird je nach Fettgewebemenge in die Stufen I bis III unterteilt. Im dritten Stadium kann der Umfang so enorm sein, dass das Gewebe über die typischerweise schmal bleibenden Knie-, Hand- und Fußgelenke hinüberhängt. Bei manchen verharre das Lipödem aber auch in Stadium I oder II, erläutert Hirsch, der im Gesundheitsausschuss des Bundestags als Sachverständiger eine bessere Versorgung angemahnt hatte. Die Stufen-Einteilung nach Fettmasse hält er für sehr problematisch, denn der Schmerz sei das zentrale Symptom. „Es kann sein, dass eine Patientin mit noch schlanken Beinen im Stadion I sehr viel stärkere Schmerzen hat als eine Frau im Stadion III mit massiver Volumenzunahme.“

Claudia Effertz von der Lipödem-Gesellschaft (LipöG) schätzt, dass bundesweit bis zu vier Millionen Frauen vom Lipödem betroffen sind, sehr viele das aber gar nicht wüssten. Es brauche eine breite Informationskampagne. Meistens trete das Lipödem in Pubertät, Schwangerschaft oder Menopause auf. Es könne zu orthopädischen Begleiterkrankungen wie einer Fehlstellung der Beinachsen oder Gelenkverschleiß kommen. Auch die seelischen Belastungen seien schwer. Verlauf, Ausmaß und Dynamik variierten.

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Krankenkasse will eine Fettabsaugung für Tanja Degner nicht bezahlen

Kompressionswäsche und Lymphdrainage helfen, die Beschwerden zu lindern. Auch Tanja Degners Tag beginnt damit, sich in medizinische Kompressionsstrümpfe zu zwängen. „Ich habe 24 Stunden am Tag Schmerzen in den Armen und den Beinen und bin von einem sekundären Lymphödem betroffen“, schildert sie – ihr droht also auch eine Degeneration der Lymphgefäße.

Das Gewicht belastet Wirbelsäule und Gelenke, zwei Knie-Operationen waren notwendig. In ihrer schlimmsten Zeit war sie bei 1,67 Meter Größe fast 180 Kilogramm schwer. „Ich war kurz davor, in den Rollstuhl zu kommen.“ Nach der Diagnose hat sie mithilfe einer Ernährungsberaterin und Bewegungstherapie inzwischen 45 Kilo verloren. Die Kostenübernahme für eine Liposuktion – eine operative Fettabsaugung - lehnte ihre Krankenkasse ab. Danach sei sie psychisch zusammengebrochen, so die 52-Jährige.

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Kostenübernahme: „Vergleich mit Schönheitsoperation ist falsch und makaber“

Kassen sollten mehr Kosten übernehmen, fordern viele Experten. Das gelte vor allem für Liposuktionen. Die neusten Lipödem-Leitlinien vom Januar 2024 – verfasst von mehreren medizinischen Fachgesellschaften, vor allem Venenfachärzten – empfehlen in schweren Fällen, das krankhaft massiv vermehrte Fettgewebe unter der Haut an Armen und Beinen operativ zu entfernen. Betont wird dabei auch: Die Ergebnisse der Liposuktion seien in frühen Stadien besser.

Claudia Effertz, die erst nach 15 Jahren die korrekte Diagnose erhalten und bis dahin 70 Kilo zugenommen hatte, kämpfte vier Jahre lang mit Kompressionsbekleidung, Lymphdrainage und viel Bewegung erfolglos gegen das Lipödem. „Ich musste an Gehstöcken laufen, war nur noch zu 40 Prozent arbeitsfähig“, erzählt Effertz. Nach zunächst mehreren Absagen der Krankenkasse wurden die Kosten für OPs an Beinen und Armen schließlich übernommen. Es erfolgten sechs Eingriffe, 55 Liter Fett wurden abgesaugt. „Die OPs waren sehr belastend, aber die enorme Erleichterung überwiegt. Dass diese Eingriffe mit einer Schönheitsoperation verglichen werden, ist falsch und makaber.“ Heute ist sie beruflich wieder voll einsatzfähig.

Eine Liposuktion gehe mit recht wenigen Risiken und Komplikationen einher, sagt Mediziner Hirsch. „Wir haben bislang keine Alternative bei schweren Fällen. Die Frauen profitieren erheblich. Die Operation macht nicht gesund, aber sie hat sehr viele Vorteile.“ Schmerzen und Körperumfang würden deutlich reduziert, ebenso orthopädische Schädigungen oder auch psychische Belastungen. „Je früher operiert wird, desto besser.“ Hirsch kritisiert: „Aktuell ist es ein Riesenproblem mit der Kassenerstattung – ein Kampf für Patientinnen, Ärzte und Krankenhäuser.“ Er hofft, dass eine noch laufende, breit angelegte Studie den hohen Nutzen der OP in schweren Fällen belegt und die Eingriffe dann bald stadienunabhängig pauschale Kassenleistung werden.

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In diesen Fällen zahlt die Krankenkasse eine Liposektion

Eine Liposuktion wird derzeit in der Regel nur bei Stadium III bezahlt, nach Einzelfallprüfung und befristet noch bis Ende 2024. Beim GKV-Spitzenverband heißt es, die Datenlage sei unklar, es seien inzwischen möglicherweise rund 300.000 Betroffene in Behandlung. Von 2020 bis 2023 wurden demnach für insgesamt 14.180 stationäre oder ambulante (hier nur bis Mitte 2023 gezählt) Eingriffe die Kosten übernommen. Die Voraussetzungen für eine Erstattung lege eine Qualitätssicherungs-Richtlinie fest. Laut LiPöG bezahlen drei Viertel der Frauen ihre Eingriffe selbst, verschulden sich dafür oft. Der Berufsverband der Frauenärzte unterstreicht, Fettabsaugung bei Lipödem sei kein kosmetischer Eingriff, sondern medizinisch notwendig.

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Tanja Degner hat Humor und Hoffnung nicht verloren, geht es gemeinsam mit einem Kreis von Betroffenen offensiv an: „Wir wollen klarstellen, dass wir krank sind und eine Ent-Stigmatisierung erreichen. Wir brauchen eine bedarfsgerechte Versorgung, mehr kompetente Ärzte, mehr Verständnis. Die Krankheit ist blöd, aber sie darf nicht unser Leben bestimmen.“ (dpa/lra)