Am 24. März ist der zehnte Jahrestag der Germanwings-Katastrophe Flugnummer 4U9525 – Chronik eines beispiellosen Verbrechens

Wisst ihr noch, wie ihr vom Germanwings-Absturz erfahren habt?
Viele Menschen erinnern sich daran, als wäre es gestern gewesen. Dabei jährt sich die Katastrophe bereits zum zehnten Mal. In einer neuen TV-Dokumentation kommen Angehörige zu Wort, erinnern sich Rettungskräfte und Ermittler, sprechen Betroffene über die größte Katastrophe in der Geschichte der deutschen Luftfahrt.
Was anfangs wie ein Unglück aussieht, ist ein furchtbares Verbrechen
Es ist der 24. März 2015, als der fliegende Massenmörder Andreas Lubitz den Airbus in den französischen Alpen abstürzen lässt. Für alle 150 Menschen an Bord endet der Germanwings-Flug 9525 von Barcelona nach Düsseldorf mit dem Tod. Was anfangs wie ein schreckliches Unglück aussieht, stellt sich nach und nach als unfassbares Verbrechen heraus.

Das macht auch der WDR deutlich, der seine vierteilige Doku „Der Germanwings-Absturz“ mit dem Zusatz „Chronologie eines Verbrechens“ versieht. Folgerichtig beginnt Episode 1 mit Christophe Brochier, dem Leiter der Gendarmerie des Departements Alpes-de-Haute-Provence, in dem die Maschine abstürzt. Thomas Kostrzewa von der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) erinnert sich, dass er von der Katastrophe erfährt, als er mit einem Kollegen in der Kantine sitzt und sofort alles stehen und liegen lässt.
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Piloten-Witwe hatte „direkt im Gefühl, dass es die Maschine war“
Annika Sondenheimer, die Witwe des aus der Kanzel ausgesperrten Piloten, schildert den 24. März 2015 als „Tag wie jeden anderen“, wenn man berufstätig ist und zwei kleine Kinder hat. Wie ihr Mann Patrick nach einem schnellen Kaffee zum Flughafen fährt und sie die Kinder in die Kita bringt. Bei ihrer Arbeit im NRW-Landtag bekommt sie noch eine Handy-Nachricht ihres Mannes, dass er gleich von Barcelona aus heimfliegen wird. Sie sitzt in der SPD-Fraktionssitzung, als Hannelore Kraft (damals Ministerpräsidentin) sagt, dass soeben über den Ticker läuft, dass eine Germanwings-Maschine abgestürzt ist. „Ich hatte direkt im Gefühl, dass es die Maschine war“, sagt sie.
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Angehörige erinnern sich, wie die Mutter von Linda, einer Schülerin aus Haltern, deren Mann in ihr Büro kommt und sagt, „Das Flugzeug ist abgestürzt.“ Klaus Radner verliert bei dem Flugzeugunglück seine Tochter Maria, die in Barcelona als Opernsängerin engagiert war. Sie hatte Besuch von ihrem Mann Sascha und ihrem Sohn Felix. Radner ist schon am Flughafen, als er erfährt, dass es ein Unglück gab. Er bittet um Informationen. „Es kamen sofort zwei Leute auf mich zu, haben mich in den Arm genommen und in einen Raum geführt.“ Da sei ihm klar geworden, dass er die Drei nie wiedersehen wird. Eindrucksvoll zeichnen Schicksale wie diese das gesamte Ausmaß des Schreckens für die Familienmitglieder und Freunde der Toten nach.
Schuldirektor: „Es macht uns wütend”
Folge zwei der WDR-Doku zeichnet die Tage nach dem Unglück nach. Wie sich herausstellt, dass kein technischer Defekt für die Katastrophe verantwortlich ist. Sondern Co-Pilot Andreas Lubitz. Wieder kommen Angehörige zu Wort, aber auch andere Betroffene. Wie Ulrich Wessel, Schuldirektor aus Haltern, der erklärt: „Es macht uns wütend, dass ein Freitod dazu führt, dass 149 weitere Menschen sterben mussten.“ 16 der Todesopfer besuchten sein Gymnasium, zwei waren Lehrer dort. Ihr Tod versetzt die ganze Stadt in Schockstarre.
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In Folge drei schildert Christoph Kumpa von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf, wie Andreas Lubitz kurz vor dem verhängnisvollen Tag im Internet Selbstmordmethoden recherchiert. Wie Lubitz seinem Arbeitgeber Krankmeldungen verschweigt. Wie er vermutlich mit sich ringt, ob er sich erneut krankschreiben lässt oder den Flug nach Barcelona antritt.
Opfer-Vater Radner: „Keiner der Ärzte hat die Reißleine gezogen“
Die forensische Gutachterin Nahla Saimeh beleuchtet Lubitz‘ Depression, seine Ängste, den Job zu verlieren. Sie beschreibt, dass der Co-Pilot wusste, was er tut. Kein Pilot trete einen Flug an und entscheide sich mitten im Flug, die Maschine abstürzen lassen. „Das ist keine Spontanentscheidung“, sagt sie. Für die Expertin steht fest, dass Lubitz sich länger zuvor mit der Idee befasst habe.

Hätten die Ärzte, die Lubitz behandeln, die Katastrophe vielleicht verhindern können, wenn sie den Arbeitgeber informiert hätten? Hierzu äußert der damalige BFU-Chef Johann Reuß eine Vermutung: bei den Untersuchungen zur Katastrophe hätten sich Ärzte wiederholt auf ihre Schweigepflicht und das Aussageverweigerungsrecht berufen. „Das Problem, das wir in Deutschland haben, ist, dass Ärzte die Sorge haben müssen, gegen die Schweigepflicht zu verstoßen, weil sie dann strafrechtlich belangt werden können.“
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Opfer-Vater Radner klagt: „Keiner der Ärzte hat die Reißleine gezogen.“ Lubitz sei bei 40 Ärzten gewesen, mindestens einer hätte „Gefahr im Verzug“ feststellen und handeln müssen.
„Ich möchte, dass die Schuldigen benannt werden“
In der Abschlussfolge der WDR-Doku geht es um die Frage der Schuld. Rechtsanwalt Elmar Giemulla hat viele der Opferangehörigen jahrelang vertreten. Er sagt dazu: „Das können nur diejenigen beantworten, die am nächsten dran sind.“ Also das Unternehmen und die Fliegerärzte. Staatsanwalt Christoph Kumpa berichtet darüber, wie sich Lubitz vor dem Flug über Details informiert, um seinen Piloten Patrick Sondenheimer aus dem Cockpit auszuschließen.
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Viele der Angehörigen der Toten sind ein Jahrzehnt nach der Katastrophe mit der Situation unzufrieden. „Ich möchte, dass die Schuldigen benannt, vielleicht sogar noch bestraft werden“, sagt Opfer-Mutter Brigitte Voß.
„Unvorstellbar, dass in unserer abgelegenen Gebirgsgemeinde so ein Drama passiert“
Andere berichten über ihre Trauer, wie sie versuchen, den Tod geliebter Menschen zu verarbeiten. Zwei Mütter von toten Schülerinnen aus Haltern erzählen von gemeinsamen Wanderungen in Frankreich, dem Land des Unglücks. Bernard Bartolini, Bürgermeister der Gemeinde Le Vernet, auf deren Grund die Maschine abstürzte, äußert sich. „Es ist unvorstellbar, dass in unserer abgelegenen Gebirgsgemeinde so ein Drama passiert.“
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Viele der Betroffenen suchten die Nähe zum Ort. „Diese Berge haben ihnen ihr Kind, ihre Lieben genommen. Dann waren die Umarmungen der Leute von hier. Da entstand eine Verbindung“, sagt der Bürgermeister einfühlsam. Die Doku beschreibt angenehm zurückhaltend, wo die Menschen trauern, worin sie Trost finden.

„Dieser Mensch war krank, der wollte sich umbringen“
Doch wie konnte es zur Katastrophe kommen? „In diesem Fall ist das Ungewöhnliche, dass hier jemand eine schwere depressive Episode hat und 149 Menschen mit in den Tod reißt“, konstatiert Psychologin Saimeh. Das zeige eine Art Rücksichtslosigkeit. „Sich das herauszunehmen, sich zu sagen, mein Ableben ist mir jetzt so wichtig, dass ich dabei völlig unschuldige, völlig fremde Menschen mit in den Abgrund reiße, ist eine deutlich narzisstische Komponente“, so die Expertin. Das gehe über eine Depression hinaus.

„Dieser Mensch war krank, der wollte sich umbringen“, sagt auch Kumpa. „Die 149 in seinem Rücken“ hätten für ihn keine Rolle gespielt. „Das kann ich so sagen, weil es das Ergebnis der Ermittlungen ist.“ Klares Fazit: es gibt nur einen Menschen, der verantwortlich ist. Andreas Lubitz. Und der kann für seine Verbrechen nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden, weil er tot ist. Es gebe keinerlei Fremdverschulden.
Germanwings-Absturz bewegt viele Menschen bis heute
Erwähnt wird auch das von der Familie Lubitz in Auftrag gegebene Gutachten, mit dem Zweifel an der Rolle des Mörders gesät werden sollten. Ernstzunehmende Experten hatten dem keine Bedeutung beigemessen. Nochmals kommen Opfer-Angehörige zu Wort, die mit dem Abschluss der Untersuchung unglücklich sind. Weil niemand mehr verantwortlich gemacht werden kann.
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Die Geschichte des Germanwings-Absturzes wird nach der Ausstrahlung der WDR-Doku nicht umgeschrieben werden müssen. Doch die Macherinnen erinnern einfühlsam und eindrucksvoll an ein Ereignis der Zeitgeschichte, das so viele Menschen bis heute bewegt.
Die vierteilige Serie „Der Germanwings-Absturz – Chronologie eines Verbrechens“ ist ab dem 28. Januar 2025 in der ARD-Mediathek zu sehen.