Acht Jahre nach der Tragödie
Haltern nach der Germanwings-Katastrophe: RTL-Reporter erinnert sich an schwersten Einsatz seines Lebens

Ein schweigendes Meer voller Blumen. Ein leuchtendes Meer voll brennender Kerzen. Ein stilles Meer voller stummer Plüschtiere. Und immer wieder junge Menschen mitten in diesem Meer. Das traurigste Meer, das ich je erlebt habe.
Diese Bilder haben sich tief in meinen Kopf, tief in mein Herz gebrannt. Es sind die Bilder vom Joseph-König-Gymnasium. Es sind die Erinnerungen an die Trauerstätte der Schüler und Lehrer vor ihrer Schule. Das sind die Bilder meiner Erinnerung, wenn ich an die Germanwings-Tragödie denke. Und während ich diese Buchstaben tippe merke ich, wie mir Tränen in meine Augen steigen.
Hier kennt jeder eine Familie, die einen lieben Menschen verloren hat

Ich sehe mich noch heute vor dieser Schule stehen. Die traurigste Schule der Welt. Ich sehe Mamas und Papas, die ihre Kinder zur Schule bringen. Mit dem Auto, zu Fuß, wie immer. Für sie geht das Leben weiter. Irgendwie zumindest. Äußerlich sieht es aus wie Alltag. Doch mir fällt auf, wie still es ist. Ich habe den Eindruck, niemand redet mehr, als unbedingt nötig.
Ich sehe in Augen ohne Ausdruck. Ich sehe Blicke, die starr sind. Ich habe das Gefühl, viele Menschen sind an diesem Tag nur mit ihrem Körper hier. Die Gedanken sind woanders. Bei den getöteten Jugendlichen und Lehrern, bei deren Mütter und Väter, die nun irgendwie weiterleben müssen. Ich spüre die Trauer. Ich spüre, dass viele Menschen sich hier kennen. Hier kennt jeder irgendeine Familie, die einen lieben Menschen verloren hat, auch wenn sie es mir womöglich nicht sagen wollen.
Haltern am See trägt schwarz. Innen wie außen
Die Gedanken an diesem Tag sind schwarz. Haltern am See trägt schwarz. Innen, wie Außen. Das habe ich bis zu diesem Tag noch nie erlebt. Es ist eine Atmosphäre, die ich persönlich kaum aushalten kann. Ginge es nach meinem Herzen, würde ich mich dazustellen, zu all den Blumen und Kerzen und Plüschtieren und einfach mitweinen.
Ich bin aber hier, um der Welt zu zeigen, was passiert, was die Folgen dieses Flugzeug-Absturzes sind: Traurige Menschen, welche den Boden unter den Füßen verlieren, weil sie ihre Zukunft verloren haben. Kinder sind Zukunft.
Ich wünsche mir in diesem Moment, Andreas Lubitz hätte all diese Bilder vor seinem egoistischen, tödlichen Plan gesehen. Ich wünschte mir, er hätte diese Wahrheit vor seinem Entschluss gekannt. Ich bin sicher: er hätte seinen Plan verworfen. Dann wäre das traurigste Meer der Welt nicht hier und das Leben in Haltern wäre glücklich.
Es gibt keinen Trost, nur Tränen und verweinte Augen
Stattdessen steht nun eine Gruppe von Schülern an der Schule. Sie haben ihren Unterricht verlassen, um vor der Schule gemeinsam zu trauern. Sie stehen am traurigsten Ort der Welt und tragen schwarz oder zumindest dunkel. Gegenseitig halten sie sich in den Armen und versuchen, sich zu stützen und zu trösten. Nach einigen Minuten verlässt diese Schülergruppe diese Trauerstätte vor der Schule. Und schon bald kommt die nächste Schülergruppe aus dem Schulgebäude. Und die Nächste. Und die Nächste. Alle kommen schweigend aus dem Schulgebäude, stellen sich schweigend zusammen an das Meer und gehen schweigend wieder in die Schule. Reden möchte hier niemand.
Aber es gibt keinen Trost. Es gibt nur Tränen und verweinte Augen. Trauer. Bei Schülern, bei Lehrern, bei Eltern, bei allen hier in Haltern. Und auch bei mir. Und das ist bis heute so, wenn ich an meinen Reportereinsatz im Jahr 2015 in Haltern am See zurückdenke. Nach der Germanwings-Tragödie.
Anmerkung der Redaktion: Der Text unseres Kollegen Valerio Mangno wurde erstmals am 24. März 2021 anlässlich des sechsten Jahrestages der Katastrophe veröffentlicht.