Frau von Ali Polat fassungslos über Entscheidung
Opfer der "Gucci-Gang" wird zum Pflegefall - trotzdem keine Opferrente
Im Mai 2019 wird Ali Polat (damals 70) in Wuppertal durch den brutalen Angriff der "Gucci-Gang" aus dem Leben gerissen, die Tritte und Schläge der jugendlichen Täter befördern ihn ins Koma. Heute ist er ein Pflegefall, muss aufwendig betreut werden. Seine Ehefrau Vida kümmert sich aufopferungsvoll um ihren Mann, der seit dem Vorfall einen Grad der Behinderung von 100 hat. Eine Opferrente erhält er nicht. Über die Begründung, die fassungslos macht, spricht seine Ehefrau Vida Polat im Video.
Opfer muss 24 Stunden am Tag betreut werden
Familienbetreuerin Rosemarie Gundelbacher begleitet uns zu Familie Polat. Die 72-Jährige unterstützt sie nach Kräften. Ebenso wie Theresa Litzinger. Sie ist Pflegefachkraft für Intensiv- und Beatmungspflege und ist beeindruckt, wie intensiv sich Vida Polat um ihren schwerstkranken Mann kümmert. Ali ist wegen einer Hirnblutung halbseitig gelähmt. Seine linke Körperhälfte und die rechte Gesichtshälfte sind von der Lähmung betroffen. Er braucht 24 Stunden am Tag Betreuung.
Theresa Litzinger spricht voller Empathie über ihre Aufgabe bei den Polats. Es sei „schön, weil die Familie so viel hilft“, sagt die 48-Jährige. Nicht so wie im Krankenhaus, fügt sie hinzu. Dabei erinnert die ganze Wohnung an eine Krankenstation. Die Sprossenwand im Flur, an der Ali Übungen macht. Die vielen Geräte, die er braucht, denn er muss teilweise künstlich beatmet werden. Nahrung nimmt er über Schläuche zu sich.
"Wenn er sich an die Nase fasst, möchte er auf den Toilettenstuhl"
Litzinger lobt ihren Patienten. Der arbeite fleißig, mache immer wieder kleine Fortschritte. Rosemarie Gundelbacher sagt: „Er weiß genau, dass man da ist. Er drückt einem die Hand, das hat er anfangs nicht getan“. Auch Vida freut sich darüber. Ihr Mann kann die Hand heben, sich mit Zeichen verständigen.
Sogar einige Worte sprechen könne er, auch wenn das niemand außer ihr und Theresa verstehen würde, aber sie wüssten immer, was er meint. „Wenn er sich an die Nase fasst, möchte er auf den Toilettenstuhl“, erzählt sie. Sie wisse auch genau, wann er allein sein möchte, dann verlassen alle das Zimmer.

Vida Polat ist Alis zweite Ehefrau, er ihr zweiter Mann. Ali ist seit 45 Jahren in Deutschland, seine Kinder sind allesamt hier geboren. Er ist Gründer und Inhaber mehrerer Obst- und Gemüseläden in Wuppertal. Als sie vor sechs Jahren aus Litauen nach Deutschland kommt, ist Ali bereits Rentner. Sie lernen sich über eine Freundin Vidas kennen.

Sie strahlt, als sie erzählt, wie er sie immer unterstützt und ermuntert hat. Dass sie ihren geliebten Beruf als Krankenschwester auch in Deutschland ausüben darf, verdanke sie auch ihrem Mann. „Er hat mir immer gesagt, 'Man kann alles schaffen, man muss es nur wollen'“, berichtet sie.
"Ich habe starke Kopfschmerzen. Sie haben mir auf den Kopf geschlagen"
Sie seien glücklich gewesen, betont Vida. Bis zu jenem Tag im Mai vor zwei Jahren. Wieder einmal hängt eine Gruppe Jugendlicher im Treppenhaus herum, die „Gucci-Gang“, wie sich die kriminellen Kinder selbst nennen. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Vida über die Jugendlichen ärgert, die einfach dort rauchen, Dreck herumliegen lassen, Hausbewohner belästigen. Am Unglückstag trifft Vida ihren Mann draußen auf der Straße und erzählt ihm, dass die Jugendlichen sich wieder im Haus aufhalten.
Ali sagt, sie solle auf ihn warten, geht hinein, um die Bande zu bitten, das Haus zu verlassen. Daraufhin wird er angegriffen, brutal geschlagen und getreten. Ein Augenzeuge ruft die Polizei, stellt einen der Täter. Die anderen Jugendlichen flüchten. Als Ali aus dem Haus kommt, wirkt er benommen, erinnert sich Vida. „Er blutete aus dem Mund und aus dem Ohr. 'Ich habe starke Kopfschmerzen. Sie haben mir auf den Kopf geschlagen', sagte er. Ich fragte ihn, ob es etwas Schlimmes ist und er sagte noch 'Weiß ich nicht'“, berichtet Vida. „Dann brach er zusammen.“
Video: So brutal prügelte die "Gucci-Gang" auf ihr Opfer ein
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"Die Arbeit im Krankenhaus ist meine Erholung"
Zu diesem Zeitpunkt ahnt Vida nicht, wie schlimm es um Ali steht. Er hat eine Gehirnblutung erlitten, die Folgen sind gravierend. Das wird ihr erst später klar. Ali ist ein Pflegefall, als er nach Hause zurückkehrt. Für Vida steht fest, dass sie sich um ihn kümmern wird. „Er wollte so nicht leben“, ist sie sich sicher. Sie glaubt, dass er gewollt hätte, dass die Maschinen abgestellt werden. „Aber ich habe ihn überredet und wir haben uns gesagt, wir schaffen das zusammen“, sagt sie überzeugt.
Voller Tatkraft widmet sie sich der Aufgabe, kümmert sich aufopferungsvoll. Schließlich sei sie seit mehr als 25 Jahren mit Leib und Seele Krankenschwester. „Ich habe ein Helfersyndrom“, lacht Vida. Deswegen geht sie auch weiterhin arbeiten. „Die Arbeit im Krankenhaus ist meine Erholung“, glaubt sie. Sie weiß, dass das seltsam klingt, deswegen erklärt sie: „Dort gibt es viel direkte Anerkennung und Dank von den Patienten.“ Zwar sei Ali auch dankbar, „aber er kann es nicht so zeigen“.
14 Monate Warten auf einen speziellen Rollstuhl
Während der tägliche Kampf um das Wohlergehen ihres Mannes sie motiviert, wird die Auseinandersetzung mit Krankenkassen, Behörden und Institutionen zunehmend zur Belastung. Immer wieder machten neue Hürden ihr das Leben schwer, berichtet sie. Auf einen Rollstuhl, der speziell auf Alis Behinderungen zugeschnitten ist, habe sie 14 Monate warten müssen.

Außerdem gebe es ständig Diskussionen um die hohen Kosten, die Alis Pflege verursache. Und die Polats leiden unter der Wohnsituation, denn sie sind buchstäblich an das Haus gefesselt. Ali kann die Wohnung nicht verlassen, er kann nicht an die frische Luft, weil er mit seinem Rollstuhl nicht die Treppen hinauf- oder herunterkommt. Außerdem sei die Wohnung zu klein.
Landschaftsverband lehnt Opferrente ab
Familienbetreuerin Rosemarie Gundelbacher berichtet, dass eine passende Wohnung schon gefunden war. Ein Altbau, behindertengerecht umgebaut. Mit dem notwendigen Platz für die medizinischen Geräte, einem großen Badezimmer mit einer entsprechenden Wanne. Und vor allem ebenerdig. Das sei zwar teuer, aber „notwendig für ein bisschen Lebensqualität“. Damit Ali wenigstens ab zu an die frische Luft kann mit seinem Rollstuhl.
Umso größer ist der Schock, als der Landschaftsverband Rheinland (LVR) – Slogan: „Qualität für Menschen“ – die beantragte Opferrente ablehnt. Mit einer Begründung, die Familie Polat fassungslos zurücklässt. „Bei dem Vorfall vom 21.05.2019 hat es sich unzweifelhaft um eine Gewalttat gehandelt. Sie haben aber durch ihr eigenes Verhalten die Schädigung wesentlich mitverursacht. Daher musste ich ihren Antrag ablehnen“, heißt es in dem Schreiben vom Mai 2020.
Der Anwalt der Familie legte sofort Widerspruch ein, auf eine Antwort warten die Polats bis heute vergeblich. Ein Sprecher des Landschaftsverbandes teilte auf RTL-Anfrage mit: „Ich bitte um Verständnis, dass der LVR aufgrund des laufenden Verfahrens im von Ihnen geschilderten Fall keine Stellungnahme zum konkreten Fall abgegeben kann.“

Die Begründung, Ali Polat habe die Täter provoziert, empört Gundelbacher. „Ich war geschockt“, sagt die Familienbetreuerin. „Solche Leistungen zu versagen, ist für mich unverständlich.“ Vida Polat war nach eigenem Bekunden über den Bescheid „so baff, dass ich einen halben Tag mit niemanden darüber reden konnte.“
Der LVR-Bescheid ist nur eine Ungereimtheit, die für Vida Polat schwer zu verstehen ist. Dass die beiden Täter im Dezember 2019 zu jeweils zwei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt werden, ist für sie eine eher milde Strafe. Belastend ist für die sie auch, dass die Familie eines der Täter im Haus gegenüber wohnt. Was ihr jedoch deutlich mehr zu schaffen macht: einer der beiden Schläger scheint bereits wieder auf freiem Fuß zu sein.
"Ich habe meinem Mann schließlich versprochen, dass ich für ihn kämpfe"
Nach RTL-Recherchen hat er zwei Drittel seiner Strafe abgesessen und könnte daher entlassen worden sein. Vida Polat glaubt, dem Jugendlichen in einem Bus begegnet zu sein, allerdings habe der Betreffende eine Maske getragen, deswegen sei sie nicht zweifelsfrei sicher. Trotzdem mache ihr der Umstand zu schaffen. „Sie leben weiter und unser Leben ist weg“, sagt sie kopfschüttelnd. Unterkriegen lassen will sich Vida Polat aber auch davon nicht. „Ich habe meinem Mann schließlich versprochen, dass ich für ihn kämpfe.“ Also kämpft sie weiter.