14-Jähriger soll den Jungen getötet haben
Fall Joel aus Pragsdorf: Wie werden Jugendliche zu Mördern?
Was treibt Jugendliche dazu, einen Menschen zu töten?
Nach dem gewaltsamen Tod des kleinen Joel (6) am 14. September hat die Polizei einen Tatverdächtigen festgenommen. Schockierend: Bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich um einen Jugendlichen im Alter von 14 Jahren. Warum Kinder und Teenager immer wieder gewaltbereit sind – Experten geben mögliche Antworten.
Psychologe geht von „extrem kurzer Zündschnur aus“
Warum Kinder und Jugendliche zu Gewalt neigen und sogar schreckliche Taten, wie einen Mord begehen, kann viele Ursachen haben. Psychologe Dirk Baumeier tippt im RTL-Interview auf grundlose Provokation.
„Die meisten Menschen haben in ihrer Jugend die Fähigkeit zur Selbstverspottung noch nicht besessen. Junge Teenager besitzen deshalb eine extrem kurze Zündschnur und winzige Meinungsverschiedenheiten können in seltenen Fällen zu grausamen Gewaltexzessen führen. Im vorliegenden Fall gehe ich von einer Innenweltvergiftung des Tatverdächtigen aus, der sich aus haltlosen Gründen durch den Sechsjährigen provoziert gefühlt hat.“
Er ist außerdem der Meinung, dass sein soziales Umfeld eine große Rolle gespielt hat. „Allein die Tatsache, dass ein 14-Jähriger ein Messer mitführt und damit geübt hantiert, wirft einen beträchtlichen Schatten auf dessen familiäres Umfeld. Erziehung ist nämlich die organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend. Kommt es hier zu Versäumnissen, rächt sich dies mitunter sträflich“, so Baumeier.
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Sind die Kinder Opfer ihres eigenen sozialen Umfelds?
Jetzt stellt sich die Frage: „Sind die jugendlichen Täter eigentlich selbst Opfer ihres eigenen sozialen Umfelds?“ Die Antwort darauf ist komplex, aber Gewaltforscher Menno Baumann sagt im RTL-Interview: „Die höchste Gewaltbelastung sieht man zweifelsohne bei Menschen, die soziale Ausgrenzung erleben. Die, die wenig Beziehungen, wenig Bindungen erleben und da wo wie sehr starke autoritäre und vor allem männlichkeitszentrierte Erziehungsideale sehen.“
Doch Kinder aus sozial schwächeren Familien sind nicht immer gleich gefährdet eine schwerwiegende Strafttat zu begehen. Oft ist es so, dass nicht erkannt wird, welche Kinder wirklich gefährdet sind, denn: „Das Interessante ist, dass wir bei den schweren Gewalttaten oft gar nicht die typischen Intensivstraftäter haben. Das heißt, die Jugendlichen, die das Gewaltpotenzial haben, die haben wir oft sehr früh und gar nicht so schlecht im Blick. Und dann kommt es doch zu Überraschungseffekten. Viele schwere Straftaten passieren, so bitter das klingt, aber mehr oder weniger zufällig aus dem Nichts heraus. Wir können es dann gar nicht wirklich erklären, warum diese Situation so eskaliert ist.“
Aus psychologischer Sicht erklärt die Expertin Rüya Kocalevent im RTL-Interview: „Das soziale Umfeld spielt eine Rolle, da ist das Elternhaus, emotionale Vernachlässigung, Gewalterfahrungen oder Missbrauch. Es gibt aber auch die Veranlagung oder einen Persönlichkeitsanteil, der häufig auf die Impulskontrolle gemünzt ist. Also wie gehe ich mit Spannung und Emotionen um?“
Wie erkenne ich Warnzeichen bei meinem Kind?
Es gibt oft schon frühe Warnzeichen, sagt die Psychologin Rüya Kocalevent. „Wenn die Emotionsregulierung nicht gelingt, kann das ein Anzeichen sein. Verhaltensauffälligkeiten zeigen sich meist schon in der Kita oder in der Schule.“
Auch Menno Baumann hat sich in Bezug auf ein anderes schweres Gewaltverbrechen diese Frage gestellt: „Ein Vater wurde zufällig an einer Tankstelle interviewt. Er sagte: ‘Ich stelle mir gerade vor, was wäre, wenn das mein Kind wäre’. Diese Frage dürfen wir uns durchaus mal stellen, denn wir tun immer so als wäre Gewalt etwas Abstraktes. Alarmglocken sollten läuten, wenn mein Kind gerade wenig Empathie für Opfer von Gewalt zeigt. Wenn mein Kind Dinge sagt wie ‘Selber schuld’ oder ‘Das hast du verdient’.“
Der Gewaltforscher rät auch dazu, wenn Eltern sich unsicher sind, Erziehungsstellen, Jugendämter oder Kinderärzte aufzusuchen und sich professionelle Meinungen einzuholen.
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Schockierende Bluttaten unter Minderjährigen
Gleich drei Bluttaten unter Minderjährigen innerhalb eines knappen halben Jahres schockierten Deutschland:
Freudenberg in NRW: Zwei Mädchen (12, 13) sollen Luise getötet haben. Das 12-jährige Opfer starb infolge zahlreicher Messerstiche
Lohr am Main in Bayern: Der 14-jährige Francesco S. wird auf einem Schulgelände getötet. Der gleichaltrige Täter soll sein Opfer mit einer Pistole erschossen haben
Pragsdorf in Mecklenburg-Vorpommern: Ein 14-Jähriger soll den sechsjährigen Joel getötet haben. Die Tatwaffe war wahrscheinlich ein Messer
Nehmen die Gewalttaten unter Kindern zu?
Trotzdem: Dass Kinder unter 14 Jahren Gewalttaten wie schwere Körperverletzung, sexuellen Missbrauch, Totschlag oder Mord begehen, kommt selten vor. Allerdings ist 2021 die Zahl der tatverdächtigen Kinder in diesem Bereich gegenüber dem Vorjahr bundesweit angestiegen (7.477 zu 7.103). Verglichen mit 2019 gab es 2021 jedoch einen Rückgang um rund zehn Prozent.
Bei den „Delikten gegen das Leben“ sind die absoluten Zahlen äußerst niedrig: 2021 gab es in diesem Bereich bundesweit 19 tatverdächtige Kinder, darunter vier Mädchen. Die Zahlen schwanken von Jahr zu Jahr stark. In den vergangenen 20 Jahren lagen sie jährlich zwischen vier und 21 Tatverdächtigen.
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