Ukraine-Talk bei Anne Will
Lindner: „Putin ist nicht mehr berechenbar“

Seit wenigen Tagen tobt ein Krieg in der Ukraine. Das klingt sehr weit weg, ist es aber nicht. Die beiden Hauptstädte Berlin und Kiew sind ungefähr 1.300 Kilometer voneinander entfernt. Mit dem Auto schafft man das in 17 Stunden.
Am Donnerstag war die russische Armee in die Ukraine einmarschiert. Zur Stunde wird um die Hauptstadt Kiew gekämpft. Doch Armee und Bevölkerung wehren sich verbissen. Nachdem die Europäische Union der Ukraine eine halbe Milliarde Euro für den Kauf von Waffen und Ausrüstung zugesichert und mehrere russische Banken vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen hat, reagiert Russlands Präsident Wladimir Putin.
Am Sonntagnachmittag versetzte er die russischen „Abschreckungskräfte“ in Alarmbereitschaft. Im Klartext: Russlands Atomwaffen sind jetzt in erhöhter Startbereitschaft. Beim Auto hieße das: Der Motor ist zwar noch nicht an, aber der Zündschlüssel steckt.
„Ist Putin noch zu stoppen?“ Das wollte Anne Will in einer kurzfristig angekündigten Sendung am Sonntagabend im Ersten denn auch folgerichtig wissen.
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Lindner: NATO geschlossen und entschlossen
Für Bundesfinanzminister Christian Lindner kam der Schritt Putins völlig überraschend. „Putin ist nicht mehr berechenbar“, sagt er. Aber: Die NATO sei geschlossen und entschlossen. „Sie verfügt über nukleare Fähigkeiten zur Abschreckung. Niemand will natürlich die Waffen einsetzen, die eine Bedrohung der Menschen bedeuten.“ Doch mit den Atomwaffen der NATO könne das Gleichgewicht der Kräfte aufrechterhalten werden.
Die Wissenschaftlerin Ljudmyla Melnyk ist erleichtert über die deutsche Kehrtwende in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung hatte am Samstagabend nach langem Zögern zugestimmt, Waffen an die Ukraine zu liefern. Enttäuscht ist sie aber, dass das so spät gekommen ist. „Wir haben auf die militärische Unterstützung des Westens gehofft“, sagt die in der Ukraine geborene Wissenschaftlerin, deren Eltern noch in Kiew leben. Die ukrainische Armee sei nicht in der Lage, gegen russische Raketen vorzugehen. „Wir müssen darum über eine Flugverbotszone sprechen. Die NATO-Staaten können den Himmel über der Ukraine schützen.“ In der Ukraine seien Atomkraftwerke, und man habe inzwischen gelernt, dass Russlands Präsident Putin vor Angriffen auf gefährliche Ziele nicht zurückschrecke.
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„Wir haben uns außenpolitisch isoliert“

Auf den Vorschlag der Wissenschaftlerin reagiert keiner der Gäste bei Anne Will. Auch nicht der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen. Der freut sich aber über den Politikwechsel in Deutschland. Die letzten drei Tage seien für Deutschland mit außenpolitischem Schaden verbunden gewesen, ja, Deutschland habe sich außenpolitisch gar isoliert, sagt er. Jetzt sei alles anders, und neben der außenpolitischen habe sich auch die gesellschaftliche Lage verändert. Deutschlandweit hätten am Sonntag 100.000 Menschen gegen den Krieg in der Ukraine demonstriert. „Die Gesellschaft hat das Empfinden: Das geht uns an.“
Die Sanktionen gegen Russland sind wichtig, obwohl auch wir sie spüren könnten. Das erklärt Finanzminister Lindner. Er sagt aber auch: „Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, und wir müssen wirtschaftliche Nachteile aushalten, die sich aus den Sanktionen ergeben.“ Für Lindner bedeutet das, den Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben, Gas, Wasserstoff oder andere Synthetische Kraftstoffe zu importieren und darüber nachzudenken, welche Kohlekraftwerke länger am Netz bleiben könnten.