Angelina Boerger im RTL-Interview

Autorin (31) über ihre späte ADHS-Diagnose - „Habe mich keine Sekunde geschämt"

Angelina Boerger
Angelina Boerger (geb. 1991) hat erst mit Ende 20 ihre ADHS-Diagnose erhalten. Heute möchte die freie Journalistin das Bewusstsein dafür schärfen und aufklären.
© Annika Fußwinkel

von Vera Dünnwald

Sie sind mal eher unaufmerksam, mal eher hyperaktiv-impulsiv – oder aber eben auch alles zusammen – Menschen mit ADHS.

Das Tückische einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung: Die Symptome sind vielfältig und können nicht immer eindeutig zugeordnet werden. Das betrifft doch eigentlich nur Kinder, oder? Von wegen! Auch Erwachsene können ADHS haben. So wie Journalistin Angelina Boerger (31), die erst mit Ende 20 ihre Diagnose erhalten und der Störung nun ein ganzes Buch („Kirmes im Kopf“) gewidmet hat.

Im RTL-Interview erklärt die Autorin, wie sich ihr Leben dadurch verändert hat und wieso sie ihrer „Krankheit“ mit Stolz entgegentritt.

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Wann hast du gemerkt, dass du ADHS haben könntest? 

Angelina Boerger.: „Es gab tatsächlich ein einschneidendes Erlebnis, aber eben erst im Erwachsenenalter. Ich war in einer Fernsehshow im Publikum, in der unter anderem auch eine Psychologie-Studentin eingeladen war. Sie sagte, ADHS fühle sich an, als würde man im Kopf durch 500 Programme zappen, aber man selbst hat nicht die Fernbedienung in der Hand. Da hat es Klick gemacht und ich dachte mir: ‘Oh mein Gott, das erklärt gerade einfach alles!’ Dann ging bei mir die Recherche los und plötzlich habe ich mein bisheriges Leben mit ganz anderen Augen gesehen.

Das Unkontrollierbare, diese Menge an Reizen, Emotionen und Gedanken, die auf mich eingeprasselt sind, egal, wie beschäftigt oder müde ich war. Genau deswegen habe ich mein Buch ‘Kirmes im Kopf’ genannt, denn es ist immer etwas los und ich kann nichts ein- oder ausschalten.“

Was ist ADHS überhaupt?

Boerger: Es gibt verschiedene Ausprägungen von ADHS. ADHS ist etwas neurochemisches beziehungsweise neurobiologisches, es geht um chemische Prozesse im Gehirn und ist somit keine Verhaltensstörung und keine Krankheit im klassischen Sinne. Klar, es muss irgendwie klassifiziert werden und es braucht diese Komponente, weil mit ADHS ein Leidensdruck und damit auch ernsthafte Folgen – im schlimmsten Falle sogar Suizid – einhergehen können. Ich würde es jedoch in erster Linie als Störung klassifizieren, da der Dopamin-Haushalt gestört ist und dem entsprechend entgegengewirkt werden kann.

Experten wissen inzwischen, dass ADHS vererbbar ist – und man kann ein Leben lang das Gefühl haben, dass alles normal ist. Viele Betroffene sind stets auf der Suche nach Action, wollen sich überall neue Reize und neues Dopamin holen. Das Problem ist aber, dass das ADHS-Hirn gar nicht dazu fähig ist, diese Menge an Reizen zu filtern.“

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Warum lehnst du den Krankheitsbegriff ab?

Boerger: „Unsere Welt ist nicht für Menschen mit ADHS gemacht. Betroffene können nur an ihre Grenzen kommen und die Erwartungen nicht erfüllen. Man kommt also nicht krank auf die Welt, sondern die Welt macht einen erst krank. Wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen, ob es jetzt in der Schule, in der Partnerschaft oder im Berufskontext ist. Dadurch können wir meiner Meinung nach große Chancen entwickeln.

Für mich ist ADHS einfach ein anderer Bauplan des Gehirns. Es ist eine Facette menschlichen Seins, mit positiven und negativen Seiten, einfach eine Form von Vielfalt.“

Stichwort Reizüberflutung: Wie kann man sich das vorstellen?

Boerger: „Irgendwann ist man überreizt, doch das Hirn macht immer weiter und ist wie auf der Überholspur – auch wenn man psychisch und körperlich gar nicht mehr kann. Selbst dann braucht es Nachschub.

Nach außen hin wird aber immer das Bild gewahrt, dass alles in Ordnung ist. Das funktioniert auf Dauer natürlich nicht und ist sehr belastend. Man fängt an, sich Vorwürfe zu machen und die Fehler bei sich zu suchen. ‘Warum bin ich so anders als die andere?’ Bei vielen Betroffenen entwickeln sich Depressionen oder andere Kompensationsmechanismen, wie zum Beispiel Angststörungen. Man fängt zum Beispiel an, bestimmte Freizeit-Aktivitäten zu vermeiden, weil man nichts falsch machen will, oder entwickelt gar Zwangsstörungen. Man zieht sich zurück und denkt sich: Das darf mir auf GAR KEINEN FALL nochmal passieren.

Vor meiner Diagnose bin ich dann in solchen Situationen oft in depressive Episoden verfallen. So Momente, in denen meine Stimmung dann krass und auch nachhaltig gekippt ist. Ich habe mir immer viel Druck gemacht, mich häufig verglichen und wollte am liebsten alles hinschmeißen. Das hemmt total. Wenn das zu extrem wird, sollte man sich unbedingt Hilfe suchen!

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Die Ergebnisse der Umfrage sind nicht repräsentativ.

Wie blickst du nun, als Erwachsene, auf deine Kindheit zurück?

Boerger:ADHS zieht sich bei mir durchs ganze Leben. Eigentlich hätte man es früher erkennen müssen, wenn man gewusst hätte, wie es sich äußert. Unterbewusst habe ich vielleicht auch schon immer gewusst, dass etwas nicht stimmt. Aber ich hatte großes Glück, dass ich immer viel kompensieren konnte. Ich habe zum Beispiel eine schnelle Auffassungsgabe. Heißt: Wenn ich die Hausaufgaben zwar zu Hause hab liegen lassen, konnte ich den Inhalt während der Stunde trotzdem aus dem Gedächtnis runterrattern. So ist kaum aufgefallen, dass überhaupt etwas nicht stimmen könnte.“

Wie hat sich das für dich angefühlt, als du älter wurdest?

Angelina Boerger
Angelina Boerger erklärt im RTL-Interview, wie sie mit ihrer AD(H)S-Diagnose umgeht.
© Annika Fußwinkel

Boerger:Je älter man wird, desto mehr bricht das Sicherheitskonstrukt um einen herum weg. Mein familiäres Umfeld hat mir immer viel Halt gegeben, aber als ich das erste Mal auf mich alleine gestellt war und mich selbst organisieren musste – da sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen.

Irgendwann fing es auch noch an, sich psychosomatisch zu zeigen. Ich hatte immer mehr mit Magenschleimhautentzündungen zu kämpfen, Verspannungen in alle Richtungen, war viel erkältet. Ich bin zu allen möglichen Ärzten gerannt, aber niemand wusste, was die Ursache sein könnte. Bis ich dann eine Therapie angefangen habe.“

Wo sagst du jetzt ganz klar, dass es ADHS war und heute noch ist?

Boerger: „Ich habe schon immer viel geredet, ich bin sehr flexibel, ich habe einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und bin sehr empathisch. Aber ich habe natürlich auch ‘klassische’ ADHS-Symptome, die sichtbar sind, wie beispielsweise das Verträumte, die Schwierigkeit, sich selbst zu organisieren oder die Konzentration aufrecht zu erhalten... Und ich bin ein‘People Pleaser’, der das Gefühl hat, jedem gerecht werden zu müssen.

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Mit Zurückweisung und Kritik kann ich nicht ganz so gut umgehen, aber daran arbeite ich. Das ist tatsächlich ein von vielen renommierten ADHS-Experten seit Jahren eingefordertes Kriterium, dass man den Aspekt in die klinische Diagnostik mit aufnimmt. Denn diese Angst vor Zurückweisung kann sogar mit körperlichem Schmerz einhergehen und selbst dann auftreten, wenn man die Kritik noch gar nicht bekommen hat. Heißt: Man geht schon davon aus, dass man kritisiert wird, was wiederum oft irritierend ist für das eigene Umfeld. Nach dem Motto ‘Was ist denn jetzt plötzlich mit dir los?’“

Was wünschst du dir für die Zukunft?

Boerger: „Ich wünsche mir noch mehr Selbstakzeptanz. Ich bin schon so weit gekommen, doch ich möchte die Logik hinter mir noch mehr verstehen. Das gibt einem viel Kontrolle zurück. Aber ich bin stolz auf mich, dass ich mir ein freies Umfeld geschaffen habe. Ich trage diese vier Buchstaben ein Stück weit mit Stolz, ich habe mich keine Sekunde dafür geschämt. Dass ich nun an diesem Punkt in meinem Leben bin, habe ich auch meiner ADHS zu verdanken.

Jetzt möchte ich anderen Menschen helfen, sie aufklären und nach Lösungen suchen. Ich möchte, dass alle Facetten von ADHS sichtbar werden.“

Hinweis: Dieser Artikel kann einen Besuch beim Arzt nicht ersetzen. Er enthält nur allgemeine Hinweise und darf daher keinesfalls zu einer Selbstdiagnose oder Selbstbehandlung herangezogen werden.