Was macht sowas mit einem Kind?

Mädchen (8) jahrelang eingesperrt! Psychologe: „Instinkte der Mutter haben versagt“

von Jenna von Thäne, Madeline Jäger und Klaus Felder

Die Horror-Geschichte eines Mädchens aus dem Sauerland schlägt hohe Wellen und bewegt viele Menschen. Eine Kindheit hatte die Achtjährige nicht. Die Mutter und Großeltern sperrten sie knapp sieben Jahre lang in ein Haus in Attendorn (Nordrhein-Westfalen) ein. Der Fall kam nach RTL-Informationen nur ans Licht, weil der Bruder der Kindsmutter misstrauisch wurde und Alarm schlug. Doch was macht so eine schreckliche Kindheitserfahrung mit einer Achtjährigen? Der Leipziger Psychologe Dr. Dirk Baumeier gibt im RTL-Interview eine Einschätzung dazu ab.
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Mädchen (8) aus Attendorn durfte Haus wohl nie verlassen – Psychologe ordnet Fall ein

Das Kind sah nie einen Spielplatz, ging nie in den Zoo, traf nie Freunde. Die Hintergründe des Falls sind noch unklar. Die Siegener Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung und der Misshandlung von Schutzbefohlenen gegen die Mutter und die Großeltern.

Man gehe davon aus, dass sie dem Kind nicht ermöglicht hätten, "am Leben teilzunehmen", so ein Sprecher. Das Mädchen habe nicht mit anderen Kindern spielen und das Haus nicht verlassen dürfen. Nicht einmal die Nachbarn hätten gewusst, dass Mutter und Kind dort lebten. Aktuell wurde das Kind in einer Pflegefamilie untergebracht. Der Psychologe Dr. Dirk Baumeier erklärt im Gespräch mit RTL zunächst, warum eine derartige Isolierung so fatal für Kinder ist.

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Psychologe: „Instinkte der Mutter haben offenbar versagt“

„Wir üben gegenüber unseren Kindern Fürsorge aus. Es gibt eingebaute Instinkte in Eltern, die dafür sorgen, dass die jeweils nächste Generation behütet aufwächst, und diese Instinkte haben bei der Mutter offenbar versagt“, erklärt Dr. Baumeier.

Auch sei es grundsätzlich ein typisches Bedürfnis von Eltern, dass sie sich andere soziale Kontakte für ihre Kinder sogar explizit wünschen. In diesem Fall jedoch nicht. Dabei sei genau dieser Bezug zu anderen Menschen laut des Experten für Kinder von essenzieller Bedeutung.

Dirk Baumeier
Der Leipziger Diplom-Psychologe Dirk Baumeier ordnet den Fall Attendorn im RTL-Interview ein.
rtl.de
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Psychologe zu Attendorn-Fall: „Führt bei so einem Kind zur Traumatisierung“

„Wir Menschen sind aus biologischer Sicht keine Einzelgänger, wir sind Herdentiere und soziale Wesen. Darum benötigen wir andere Menschen für unsere gesunde psychosoziale Entwicklung – auch den Kontakt zu Gleichaltrigen. Dieses Kind wurde aber isoliert von der Außenwelt. Nur die Mutter und die Großeltern hatten Zugriff zu diesem Kind und das führt bei so einem Kind zur Traumatisierung“, schildert der Experte. Das Kind habe nicht die Möglichkeit gehabt, sich normal und gesund zu entwickeln.

„Diesem Kind wurden die Möglichkeiten genommen, sich in den ersten entscheidenden Lebensjahren auf das soziale Umfeld hin zu orientieren und Kontakte zu knüpfen – außerhalb der inneren Kern-Familie. Wir gehen als Psychologen davon aus, dass Kinder, die so isoliert werden, in gewisser Weise auch traumatisiert sind und jetzt braucht es sicher auch eine lange psychotherapeutische Begleitung für dieses Kind“, schätzt Baumeier ein.

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ARCHIV - 07.07.2009, Nordrhein-Westfalen, Attendorn: Die Kirchturm des «Sauerländer Doms» in Attendorn. (zu dpa: «Mutmaßlich eingesperrtes Mädchen: Zeugenvernehmungen dauern an») Foto: Franz-Peter Tschauner/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Ein Kind (8) aus der Gemeinde Attendorn soll jahrelang eingesperrt worden sein.
deutsche presse agentur

Attendorn-Fall: Familie stammt nicht aus sozial schwachem Milieu

Doch insbesondere für Außenstehende und Laien stellt sich die Frage, was eine Mutter zu der kompletten Isolation ihres Kindes treiben könnte.

„Es gibt verschiedene Gründe, warum Eltern so etwas tun. Man nimmt im ersten Moment an, dass es sich um ein sozial schwaches Milieu handeln muss. Das ist hier aber absolut nicht der Fall. Man muss sich nur einmal das Haus der Familie und die Gemeinde Attendorn anschauen“, schildert Baumeier.

Bei Fällen dieser Art, in denen Familien ihre Kinder isolierten, sei es seiner Erfahrung nicht so, dass zum Beispiel Mütter das Gefühl hätten, ihren Kindern etwas Schlimmes angetan zu haben. Vielmehr seien sie felsenfest davon überzeugt, dass sie „das Kind vor einer bösen und feindlichen Welt“ geschützt hätten.

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„Dahinter steckt oft irrige Annahme, dass die Welt da draußen besonders gefährlich sei“

„Wenn Eltern ihr Kind dermaßen von der Außenwelt isolieren, dann steckt dahinter oftmals die vollkommen irrige Annahme, dass die Welt da draußen besonders gefährlich sei und, dass die Nachkommen einen besonderen Schutz benötigen, in dem sie isoliert werden. Letzten Endes ist so eine Verhaltensweise so alt wie die Menschheit“, schildert der Experte.

Und: „Als Psychologe könnte ich mir durchaus vorstellen, dass die Mutter und die Großeltern das Kind sogar sehr lieben.“ Ein Anhaltspunkt dafür sei, dass bislang noch keine Spuren auf körperliche Misshandlung entdeckt wurden. Das Kind sei außerdem normal ernährt worden und habe die übliche Sprachentwicklung durchlaufen, denn es könnte sich artikulieren.

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Experte geht von psychischer Störung der Mutter aus

„Letzten Endes stecken dahinter mit Blick auf die Mutter und die Großeltern jedoch psychopathologische Prozesse, denn dieses Verhalten ist keinesfalls normal. Wir müssen davon ausgehen, dass eine psychische Störung bei der Mutter vorliegt und wahrscheinlich auch bei ihren Eltern“, fasst der Experte zusammen.

Es seien höchstwahrscheinlich irrationale Ängste, oder eine wahnhafte Erkrankung im Spiel. Bei den polizeilichen Vernehmungen in den nächsten Wochen müssten die Hintergründe zu diesem Verhalten genauer erforscht werden. Doch aktuell schweigt die Mutter und auch die Großeltern.

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Jahrelang isoliert! Was macht das mit Kindern?

Laut des Psychologen habe sich das Kind körperlich recht normal entwickelt und könne auch kommunizieren. Jedoch sei zum Beispiel das Treppensteigen ein Problem und dies sei auf motorische Fähigkeiten zurückzuführen, die die Achtjährige schlicht noch nicht erlernt und geübt habe. „Das sind Fähigkeiten, die dem Kind auch jetzt noch beigebracht werden können. Solche Kompetenzen sind trainierbar“, so Baumeier. Durch gezielte therapeutische Unterstützung könnten diese Kinder noch auf eine gesunde Bahn gelenkt werden.

„Das Kind weiß nicht, was ihm widerfahren ist. Es kannte nur die Welt dieses Zimmers“, wie sich dies auf die weitere Entwicklung auswirken wird, sei noch nicht absehbar. Das Kind sei in einer Entwicklung gestört. Grundlegende soziale Kompetenzen seien nicht vorhanden. Daher sei die weitere Entwicklung und Zukunft des Kindes nun von vor allem von einer guten Therapie abhängig.