Ein Blick in ein umkämpftes Land
US-Wahl: Deshalb kann ich viele Trump-Wähler verstehen

Bei der Präsidentschaftswahl wird aktuell deutlich, wie zerrissen die USA sind. In vielen Bundesstaaten trennen Joe Biden und Donald Trump nur wenige Prozentpunkte, wenn überhaupt. Während ich hoffe, dass Biden das Rennen für sich entscheidet, kann ich die Entscheidung vieler Trump-Wähler nachvollziehen. Nick Hines lebt in Ohio und hilft, die aufgeheizte Stimmung zu verstehen.
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Die USA - ein zerrissenes Land
Während Trumps erster Amtsperiode habe ich über ein Jahr bei dem US-amerikanischen Fernsehsender WOUB gearbeitet. Im Südosten des Swing-States Ohio, der sich dieses Mal erneut für Donald Trump entschieden hat, habe ich in einem der wenigen demokratischen Landkreise gelebt.
Die Aufteilung in Ohio ist simpel: Wie in vielen anderen Bundesstaaten auch, wählt die Stadtbevölkerung überwiegend demokratisch, die Landbevölkerung entscheidet sich überwiegend für die Republikaner. Und die Stimmung ist angespannt.
Nick Hines ist Psychologie-Student und musste aufgrund der Corona-Pandemie aus der demokratisch geprägten Universitätsstadt Athens zurück zu seinen Eltern in ein Dorf in der Nähe der Kleinstadt Marietta ziehen. „Hier im Kreis Monroe wählen die Leute seit Jahren republikanisch. In diesem Jahr haben rund 4.000 Menschen für Trump gestimmt, 1.000 für Biden“, erzählt Hines.
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"Das Leben hier ist hart"
Um die aufgeheizte Situation zu verstehen, hilft ein Blick auf die wirtschaftliche Situation der Region. „Das Leben hier ist hart. Die meisten Menschen müssen über eine Stunde fahren, um einen einigermaßen gut bezahlten Job zu erreichen“, erzählt der Student.
Der Südosten Ohios gehört zum sogenannten Rustbelt, einer Region, die über Jahrhunderte wirtschaftlich von der Kohleindustrie gelebt hat. Einst war sie der Motor des Landes, heute können die wenigen verbliebenen Minen international nicht mehr konkurrieren. Das prägt den Alltag vieler Menschen, deren Familien seit Generationen stolz auf ihre Arbeit in der Kohleindustrie waren und deren Lebensgrundlage heute weggefallen ist.
Trump spricht eine einfache Sprache

Die mangelnde Infrastruktur wirkt sich auf viele Lebensbereiche aus. Für große Firmen ist die abgelegene Region oft nicht attraktiv genug, für andere wirtschaftliche Bereiche ist die Kaufkraft nicht ausreichend. Auch der mangelnde Zugang zu Bildung und gesicherten Informationen ist ein Problem.
„Viele Menschen sind falsch informiert, es herrscht Unsicherheit darüber, was wirklich stimmt“, berichtet Hines. „Und Donald Trump spricht eine einfache Sprache. Er ist wie der Typ, den man an der Supermarkt-Kasse treffen würde und der sich über den Schnickschnack in seinem Kaffee aufregen würde. Ich denke, die Menschen mögen das.“
"Ich habe Angst, dass jemand unser Haus niederbrennt"
Auch wenn sich der Wahlkreis am Ende für Trump entschieden hat, treffen dennoch unterschiedliche Positionen aufeinander. „Mein Vater hat vor ein paar Wochen ein Biden-Schild in unseren Vorgarten gestellt, als ein Mann mit einem großen Truck mit gleich zwei Trump-Flaggen auf dem Kühler anhielt. Er schrie aus dem Seitenfenster: Verstehst du, dass Biden unser Land ruinieren wird? Mein Vater schrie zurück: Willst du aussteigen und wir kämpfen das aus?“, erinnert sich der Student. „Diese Situationen machen mir Angst. Ich bin besorgt, dass jemand unser Haus niederbrennen würde, wenn wir beispielsweise eine „Black Lives Matter“-Fahne aufhängen würde.“
In den vergangenen Tagen hat Nick Hines viele solcher Auseinandersetzungen miterlebt. „Jemand hatte „Trump“ in sein Feld gemäht und jemand anderes hat es in einer Nacht-und-Nebel-Aktion kaputtgemäht“, sagt er.
Dass das Ergebnis so knapp sein wird, hatten sich viele anders gewünscht. „Ich bin nicht überrascht, dass es so eng ist“, gibt Hines aber zu. „Viele Menschen haben zwar gesagt, dass sie für Biden stimmen, haben das scheinbar aber dann doch nicht gemacht.“ Die Konfrontation spielt sich nicht nur in Vorgärten, auf Feldern oder in den Nachrichten ab. Auch innerhalb von Familien treffen unterschiedliche Ansichten auf einander. „Ich bin enttäuscht von den Ansichten meiner Tante und meines Onkels. Ich werde vermutlich den Kontakt zu ihnen abbrechen, weil sie sich vermehrt rassistisch und homophob geäußert haben“, sagt Hines.
Ich kann die zerklüftete Situation verstehen
Für meine Berichterstattung für den öffentlichen Fernsehsender WOUB bin ich immer wieder raus aufs Land gefahren, habe das Gespräch mit Menschen gesucht, die mir über ihre Sorgen berichtet haben. Finanzielle Not, Perspektivlosigkeit und das permanente Gefühl, hinterherzuhängen und von der Politik in Washington übersehen zu werden, prägen den Alltag vieler Amerikaner. Das Land ist längst nicht mehr so gut aufgestellt, wie es das für viele Jahre war.
Ich verfolge diese Präsidentschaftswahl sehr besorgt, sehe die aufgeheizte Stimmung in meinem eigenen Freundes- und Bekanntenkreis. Mein US-amerikanischer Freundeskreis setzt sich mit überwältigender Mehrheit für die Demokraten ein, aber das ist eine Bevölkerungsschicht, die auf Universitäten war, die Auslandssemester in Europa verbracht hat und die nicht das Gefühl hat, abgehängt zu sein.
Die USA sind in sich zerrissen und die Gründe dafür sind zu vielschichtig, um sie in einem einzigen Artikel zu benennen. Nick Hines sagt: „Selbst, wenn Biden gewinnt, wird sich das Leben vieler hier erst mal nicht verbessern. Aber ich glaube an eine Entwicklung auf lange Sicht.“
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