Zur Staatsbürgerschaft gezwungen

Ukrainische Babys müssen Russen werden - sonst gibt's keine Windeln und Babynahrung

Eltern unter Druck gesetzt: Ukrainische Babys müssen Russen werden
Eltern unter Druck gesetzt: Ukrainische Babys müssen Russen werden
/FW1/angus macswan, REUTERS, LISI NIESNER

Aus der Stadt Cherson im Süden der Ukraine werden nach deren Rückeroberung immer mehr Fälle von Babys bekannt, die die russische Staatsangehörigkeit annehmen mussten. Entweder, weil es die russischen Streitkräfte in der Besatzungszeit verlangten, oder weil sie die Eltern mit dem Zugang zu Windeln oder Babynahrung erpressten. Die Nachrichtenagentur Reuters hat einige Fälle aufgedeckt. So wie den von Kateryna. Ihre Großmutter Olha Lukina konnte im letzten Moment verhindern, dass das ukrainische Mädchen eine Russin wird.

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Vor Rückeroberung Chersons geboren: Ukrainische Babys sind jetzt Russen

Natalia Lukina schaut aus dem Fenster und hält ihr Baby Kateryna fest im Arm.
Natalia Lukina schaut aus dem Fenster und hält ihr Baby Kateryna fest im Arm.
/FW1/angus macswan, REUTERS, LISI NIESNER

Im Mai vergangenen Jahres kam Kateryna zur Welt – in einer der dunkelsten Stunden ihres Geburtsortes Cherson, wo zu diesem Zeitpunkt heftige Kämpfe tobten. Der 65-jährigen
Großmutter gelang es gerade noch, die das Mädchen als ukrainische Staatsbürgerin anmelden zu lassen. Im März hatten russische Truppen die Stadt besetzt. Wenig später mussten alle Babys als russische Staatsbürger registriert werden.

Daran erinnert sich auch Chefarzt Leonid Remyga vom Klinikum Cherson. Eine unbekannte Zahl von Babys, die vor der Rückeroberung der Stadt durch die ukrainischen Streitkräfte geboren wurden, sind nun auf dem Papier Russen.

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Berichte aus Cherson: Propagandakampagne, "dass Russland für immer hier ist"

Baby Kateryna kam in Cherson während der russischen Besatzungszeit zur Welt.
Baby Kateryna kam in Cherson während der russischen Besatzungszeit zur Welt.
/FW1/angus macswan, REUTERS, LISI NIESNER

Im Klinikum Cherson als einzigem noch funktionierendem Krankenhaus der Stadt wurden vergangenes Jahr 489 Kinder geboren, deutlich weniger als die durchschnittlich 1.200 pro Jahr
vor Ausbruch des Krieges. Chefarzt Remyga führt den Rückgang darauf zurück, dass viele Mütter für die Geburt in die von der Ukraine kontrollierten Landesteile oder ins Ausland geflohen seien. In ukrainischen Krankenhäusern bekommen Eltern medizinische Unterlagen zur Geburt ihres Kindes, müssen aber zum Einwohnermeldeamt gehen, um eine Geburtsurkunde mit Staatsbürgerschaft zu erhalten.

In seinem Krankenhaus wendete Remyga ukrainische Gesetze an, bis russische Soldaten ihn am 7. Juni aus dem Dienst entließen. „Sie haben eine solche Propagandakampagne durchgeführt, dass Russland für immer hier ist“, erinnert sich Remyga. „Dann drohten FSB-Mitarbeiter damit, Familien bekämen Probleme, wenn sie die russischen Papiere nicht annähmen."

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Neugeborene sollten Russen werden: Eltern mit Windeln und Babynahrung erpresst

Zu diesen Problemen gehörte dem Arzt und Katerynas Eltern zufolge die Verweigerung des Zugangs zu Windeln und Babynahrung. "Als wir nach Windeln gefragt haben, sagten die Russen zu uns 'Wenn ihr ohne russische Geburtsurkunden kommt, dann geben wir euch keine Windeln'",
sagte die 42-jährige Mutter Natalia Lukina.

Die meisten Eltern kleiner Kinder ohne Einkommen waren auf die kostenlosen Produkte von den russischen Besatzern angewiesen. "Es gab keinen Pfennig Geld", ergänzt Lukinas Partner Oleksij Markelow. Reuters konnte ihren Bericht nicht unabhängig verifizieren. Moskaus Geheimdienst FSB war zunächst nicht für eine Stellungnahme zu den Aussagen der Bewohner Chersons zu erreichen.

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Während der Besatzung meldeten viele Eltern ihre Neugeborenen weder als russische noch als ukrainische Staatsbürger an, erläuterte die Leiterin des regionalen Einwohnermeldeamts in Cherson, Olena Klimenko. Seit November – nach der Befreiung von den Besatzern - hätten viele ihre Babys nachträglich als ukrainische Staatsbürger registriert. Genaue Zahlen habe Klimenko nicht. Es sei nicht klar, wie viele Kinder eine russische Staatsbürgerschaft erhielten, weil russische Beamte die Fälle bearbeitet und die ukrainischen Behördenmitarbeiter nicht mit ihnen kooperierten hätten.

Lukina weigerte sich, die zwei Monate nach Beginn der Besatzung ausgestellte ukrainische Geburtsurkunde ihrer Tochter zu ändern. Die Nachrichtenagentur Reuters konnte Katerynas ukrainische Papiere mit dem Stempel des ukrainischen Justizministeriums einsehen. Das Ministerium war zunächst nicht für eine Stellungnahme zur Situation in Cherson während der russischen Besatzung zu erreichen. "Wir haben (den Russen) gesagt, dass das Baby in der Ukraine geboren wurde und ukrainisch ist, nicht russisch", berichtete Lukina. Sie und Markelow leben mit ihren drei Kindern und der Großmutter ohne Strom und fließendes Wasser nur 1,5 Kilometer von der von Russland kontrollierten gegenüberliegenden Seite des Flusses Dnepr entfernt. (reuters/sbl)

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