Wenige Tage nach der Befreiung
Folterkammern, Leichen und Landminen – Cherson prüft russische Kriegsverbrechen
Die russischen Invasoren sind seit Tagen abgezogen, nun beginnen die Ermittlungsarbeiten in Cherson. Minen werden geräumt, Leichen geborgen - viele Indizien deuten derweil auf klare Kriegsverbrechen hin. Bis hier wieder Normalität einkehrt, wird es dauern. Schließlich verharren die Angreifer noch immer auf der anderen Flussseite. Ein Besuch in einer Stadt, die sich ordnen muss.
Noch immer sind Schüsse zu hören

Knapp acht Monate wurde die ukrainische Stadt Cherson vom russischen Militär besetzt. Sie wurden vom ukrainischen Militär zur Flucht gezwungen. Nun wird das Ausmaß der Zerstörung tagtäglich deutlicher. Russland verliert mit Cherson eine strategisch wichtige Stadt. Das wollten die Angreifer offensichtlich nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb kommen nun immer weitere Gräueltaten der russischen Besatzer zum Vorschein.
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Zwar haben die russischen Truppen die 300.000-Einwohner-Stadt Anfang November geräumt. Sie haben sich aber lediglich auf das südliche Ufer des Flusses Dnipro zurückgezogen. Noch immer sind von dort Schüsse zu hören. Gelegentlich zielen die auch auf den befreiten Teil der Stadt ab. Weitere Vorstöße von ukrainischer Seite sind ebenfalls vorerst unterbunden. Die Antonowski-Brücke, die beide Uferseiten miteinander verbindet, wurde zerstört.
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Minenentschärfer suchen das Gebiet um Cherson ab

Es ist nicht die einzige Hinterlassenschaft des russischen Militärs. Viele Straßen, Felder und Gebäude wurden vermint zurückgelassen. Ein Großteil der Infrastruktur wurde bereits von Kampfmitteln befreit – darunter auch Einrichtungen der Energieversorgung. Tausende Sprengkörper habe der Kampfmittelräumdienst bereits entdeckt. Zudem seien bereits ukrainische Kampfmittelräumer getötet oder verletzt, teilte der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyj mit. Minen und Munition bleiben auch nach dem Abzug eine stetige Gefahr.
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Laut ukrainischen Polizeiberichten: Mehrere Verhör- und Folterzentren gefunden

Mit den Ermittlungsarbeiten wächst auch der Verdacht von Kriegsverbrechen. Denn bislang wurden zunächst vier Folterzentren von den örtlichen Behörden entdeckt. Wenige Stunden später hat sich die Zahl laut der Nachrichtenagentur Reuters schon auf elf erhöht. Wer sich den russischen Besatzern entgegengestellt hat, wurde verschleppt, gefoltert und in Einzelfällen sogar hingerichtet.
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Die Existenz von russischen Folterzentren konnte auch schon in Kiew und Charkiw nachgewiesen werden. In Cherson sollen sie sich in Kellern von Wohnhäusern, Schulen, aber auch in Polizeistationen befunden haben. Maxim, eines der Opfer von russischen Foltermethoden spricht über die physischen sowie psychischen Misshandlungen: „Sie haben alle Gefangenen hergebracht, mit einem Sack über dem Kopf und gefesselten Händen“. Der ehemalige ukrainische Militäroffizier wurde gefangen gehalten. Auch seine Frau und seine Kinder wurden als Geiseln genommen. „Und am nächsten Morgen haben sie mich verhört. Auf ihre Weise“, erzählt er. Mit „ihrer Weise“ meint Maxim Folter durch Elektroschocks.
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Kriegsverbrechen werden erfasst, Strafgefangene wurden freigelassen

Maxim hatte offenbar Glück, er hat überlebt. Denn Laut Innenminister Monastyrskyj wurden derzeit schon 63 Leichen gefunden – einige von ihnen wiesen Folterspuren auf. Allerdings hat die Suche erst begonnen. Massengräber wie in Butscha können derzeit noch nicht ausgeschlossen werden. Bislang bestritt der Kreml, dass seine Truppen Zivilisten ins Visier nehmen und Gräueltaten begangen haben. Daran wird sich wohl auch jetzt kaum etwas ändern. Lediglich die Zahlen der erfassten Kriegsverbrechen werden sich erhöhen. „Jeden Tag haben wir hier 70 neue Fälle von mutmaßlichen Kriegsverbrechen.“ Insgesamt seien schon fast 5.000 Fälle registriert, erklärt ein Vertreter der Staatsanwaltschaft.
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Auch das ist bei weitem nicht die einzige Baustelle, mit der die örtlichen Behörden derzeit zu kämpfen haben. Vor dem russischen Abzug wurden knapp 450 Häftlinge aus dem Gefängnis von Cherson freigelassen – darunter auch Schwerverbrecher. Die ukrainische Polizei bemüht sich nun, die Geflohenen wieder einzufangen.
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Große Teile der Infrastruktur wurden vor dem Abzug zerstört

Fahndung und Aufklärungsarbeit sind durch die zerstörte Infrastruktur enorm erschwert. Kein Fernsehen, kein Radio, keine Telekommunikation. Der Grund? Auch der Fernsehturm wurde in die Luft gesprengt. Ein riesiges Geflecht aus Stahlträgern erstreckt sich nun auf der Straße statt in den Himmel. Aktuelle Bilder aus Cherson sind daher limitiert.
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Langsam kehrt wieder Normalität ein – insofern das überhaupt möglich ist
Fährt man durch das Zentrum der Stadt, sieht man überall lange Menschenschlangen. Mal werden Lebensmittel verteilt, mal Trinkwasser. Letzteres gibt es nicht mehr aus dem hauseigenen Wasserhahn. Die Wasserversorgung wurde nahezu komplett zerstört. So ziehen die Einwohner weiter zum Fluss Dnipro. Dort sieht man zahlreiche Menschen Wasser aus dem Fluss holen. Zum Trinken ist es aber nicht gedacht.
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Immer wieder sind Schüsse zu hören. Schüsse von der anderen Uferseite. Das russische Militär versucht noch immer gezielt Panik zu erzeugen. Die Einwohner von Cherson scheint das aber kaum noch zu beeindrucken. Sie scheint nach einer knapp achtmonatigen Besetzung nur noch wenig zu schockieren. (dpa, rdr)
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