Expertin über die unterschätzte Gefahr Marcus war süchtig nach Sportwetten: „Ich nutzte jede Chance, um an Kohle zu kommen"

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Sportwetten sind gerade bei Fußball extrem beliebt und könnten sich zu einem Suchtproblem entwickeln. Ein Betroffener erzählt uns seine Geschichte
Hirurg

Marcus P.* ist 19, als er auf sein erstes Spiel wettet. „Ich habe schon immer gerne Fußball geschaut und habe oft Werbung für Sportwetten in den Spielpausen im Fernsehen gesehen. Daher war für mich auch nichts dabei, einfach mal tippen zu gehen“, erzählt er uns im Interview. Marcus gewinnt mit einem sehr geringen Einsatz mehrere hundert Euro und kann sein Glück kaum fassen. Die große Hoffnung: endlich die geringe Sozialhilfe aufstocken zu können. Marcus setzt all sein Geld ein und verliert alles – eine fatale Abwärtsspirale.
*Name von der Redaktion geändert

Alles begann mit Fußball-Wetten

Gerade Fußballwetten verführen viele Zuschauende zum Zocken.
Gerade Fußballwetten verführen viele Zuschauende zum Zocken.
picture alliance / Eibner-Pressefoto | EIBNER/Dimitri Drofitsch

Man kennt Sportwetten aus der Werbung, hat vielleicht schon selbst das ein oder andere Mal getippt. Manch einer verspricht sich davon das schnelle Geld, doch leider bergen Sportwetten und Glücksspiele generell ein enormes Suchtpotenzial, das mitunter bis zum Existenzverlust führen kann. Das Tückische: Vielen Menschen ist diese Gefahr nicht bewusst. Marcus hat uns seine Geschichte erzählt.

Sportwetten führten Marcus in die Schuldenfalle

Um das verlorene Geld wieder zurück zu bekommen, erhöht Marcus seine Wetteinsätze. „Das ging so weit, dass ich direkt zu Monatsbeginn meine ganze Sozialhilfe verzockt habe. Ich hatte Schulden im vierstelligen Bereich“, erzählt er im Gespräch mit RTL. Als er selbst sein Sucht-Problem bemerkt, ist er bereits in der Spirale gefangen, verliert wegen fehlender Mietzahlungen fast seine Wohnung. Vor seinen Angehörigen verheimlicht er seine Probleme lange Zeit erfolgreich, beklaut manche von ihnen sogar: „Ich hätte nie Gewalt angewandt, aber wenn ich die Möglichkeit hatte, habe ich jede Chance genutzt, um an Kohle zu kommen“, so Marcus.

Lese-Tipp: Glücksspielsucht bei GZSZ: "Sportwetten sind eine der gefährlichsten Formen des Glücksspiels"

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Hilfsangebote gegen Sportwetten-Sucht halfen

Wettbüros wie diese gibt es zahlreich in den meisten Städten.
Wettbüros wie diese gibt es zahlreich in den meisten Städten.
picture alliance / SvenSimon | FrankHoermann/SVEN SIMON

Nach sieben Jahren entschließt er sich dazu, sich in einer Gütersloher Klinik für Spielsüchtige helfen zu lassen. Leider wird er eine Woche nach der Entlassung rückfällig. „Das Problem ist: In meiner Gegend sind direkt drei Wettbüros. Das heißt, anfangs musste ich Umwege lernen, damit ich dort nicht mehr vorbeikomme“, erklärt er. Erst durch eine Selbsthilfegruppe, die er bis heute wöchentlich besucht, schafft der 29-Jährige schließlich den Absprung – mittlerweile ist das drei Jahre her. Seit Kurzem sind alle Schulden komplett beglichen.

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Wichtig seien laut Marcus P. Strategien: „Ich laufe dann für mich eine Runde und denke darüber nach, was ich in all den Jahren dazugelernt habe. Denn ich weiß, wenn ich den Raum des Wettbüros betreten würde, wäre alles vergessen.“ Mit seiner Geschichte will er vor allem jüngere Menschen auf die Gefahren von Sportwetten aufmerksam machen. Eigentlich darf man in Deutschland erst ab 18 Jahren an Glücksspielen teilnehmen. „Leider wird das Alter in Wettbüros nicht so oft kontrolliert. Ich habe daher oft Minderjährige im Wettbüro angetroffen“, erinnert sich Marcus P.

Glücksspiel-Werbeverbote könnten helfen

Christiane Lieb ist Geschäftsführerin der Fachstelle für Suchtfragen SUCHT.HAMBURG. Für sie liegt die Gefahr bei Sportwetten in der Verharmlosung durch die ansprechende Werbung. Sie fordert daher ein Werbeverbot von Glücksspielen.

„Problematisch an Sportwetten und Glücksspielen ist der Rauschzustand, der beim Gewinnen im Gehirn entsteht. Viele haben gerade am Anfang Glück und erzielen einen großen Betrag. Das hat oft zur Folge, dass Betroffene dem Glücksgefühl hinterherjagen und es wieder erleben wollen“, erklärt die Expertin. Zudem steigere sich das Selbstbewusstsein, sodass viele Spieler glauben, sie könnten das Ergebnis beeinflussen. Auch der Zeitpunkt des Gewinnerhalts spielt eine große Rolle: Sofortgewinne sind laut der Expertin gefährlicher als ein Lottoschein.

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Ab wann Sportwetten gefährlich werden

Aber ab wann gilt man eigentlich als süchtig? Und ist man bereits ab dem ersten Spiel gefährdet? Typisches Anzeichen einer Sportwetten-Sucht sei laut Lieb der Kontrollverlust, wenn Betroffene verzweifelt versuchen, das verzockte Geld wieder reinzuholen. Glücksspiele und Sportwetten werden dann zum Lebensmittelpunkt. Betroffene richten ihren Alltag danach aus und verlieren oft das Interesse an Dingen, die ihnen sonst Spaß machten. Viele leihen sich Geld oder gehen an die Ersparnisse, um weiterspielen zu können. Dem Umfeld fällt das Problem meistens lange nicht auf, da Spielsüchtige sich aus Scham erst sehr spät anvertrauen oder das Ausmaß ihrer Sucht herunterspielen.

Normalerweise werde man aber nicht schon ab dem ersten Spiel süchtig, eine Sucht entwickele sich vielmehr über einen längeren Zeitraum. Es gebe aber, so die Expertin, verschiedene Risikofaktoren, die hineinspielen würden. So seien Menschen mit einer niedrigen Frustrationsgrenze und einem geringen Selbstwertgefühl häufiger von einer Spielsucht betroffen als beruflich erfolgreiche und zufriedenere Menschen.

Folgen der Spielsucht

Folgen einer Sucht können Beziehungsprobleme in der Familie oder am Arbeitsplatz, Verlust des Selbstbewusstseins, depressive Verstimmungen und Existenzverlust bis hin zu Suizidgedanken sein. Deshalb sollten Betroffene sich so früh wie möglich jemandem anvertrauen und sich nicht davor scheuen, Hilfsstellen aufzusuchen.

Hilfe für Betroffene und Angehörige

Wichtig: Freunde und Familie sollten bei einem Verdacht mit Betroffenen reden, kein Geld mehr verleihen und bei Kreditkarten auf Betrugsversuche achten. Daneben sollten sie mit einer Suchtberatungsstelle Kontakt aufnehmen und die potenziell süchtige Person davon überzeugen, sich Hilfe zu holen. Dennoch sollten Angehörige sich darüber bewusst sein, dass die Verantwortung nicht bei ihnen liegt, weiß die Expertin.

Anlaufstellen sind die örtlichen Suchtberatungsstellen oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), aber auch telefonische Beratungsangebote wie die Helpline für Glücksspielsucht. Im Internet findet man zudem zahlreiche Informationsangebote bis hin zu Ausstiegsprogrammen. Eine seriöse Suchtberatung ist immer kostenfrei und anonym.

Hier finden Sie Hilfe in schwierigen Situationen:

Sollten Sie selbst von Suizidgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen! Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch die Möglichkeit, anonym mit anderen Menschen über Ihre Gedanken zu sprechen. Das geht telefonisch, im Chat, per Mail oder persönlich.

Wenn Sie schnell Hilfe brauchen, dann finden Sie unter der kostenlosen Telefon-Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 Menschen, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.