RTL-Reporter berichtet aus Butscha
Eindrücke aus Butscha: "Vor mir liegen fünf Männerleichen. Ihrer Kleidung nach sind es Zivilisten"
Die Bilder aus Butscha schockieren die Welt. Das ukrainische Verteidigungsministerium hat Journalisten aus der ganzen Welt nach Butscha eingeladen. Mein Name ist Gordian Fritz, als RTL-Reporter in der Ukraine, habe ich Butscha am Montag besucht und schildere hier meine Eindrücke.
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“Da liegt meine Familie. Erschossen von den Russen. Wieso? Wieso haben sie das getan?”
Es ist noch kalt in Kiew, als wir um kurz nach acht Uhr am Morgen an einer Bushaltestelle stehen. Gemeinsam mit ungefähr 50 anderen Journalisten warten wir hier auf den Transfer nach Butscha. Jeder, der hier steht, weiß was ihn heute erwartet. Die Bilder aus Butscha bestimmen alle Gespräche. Sie könnten zum Einschnitt in diesem Krieg werden. Auch deshalb hat das ukrainische Verteidigungsministerium Journalisten eingeladen, sie mit Bussen nach Butscha zu bringen.
Die kleine Stadt liegt ungefähr 25 Kilometer nordwestlich von Kiew. Die Straße außerhalb Kiews ist übersät mit zerstörten Panzern, aber auch privaten Autos. Manche durchsiebt von Kugeln. Die Busse müssen immer wieder die Spuren wechseln, um den Hindernissen auszuweichen. Unsere Fahrt geht nicht direkt nach Butscha. Zuerst fahren wir nach Motyzhin. Ein Nachbarort. Man führt uns dort in ein Waldstück direkt hinter ein paar Häusern. Manche von ihnen sind völlig zerstört. In dem Wald liegen halb vergraben die Leichen der Bürgermeisterin und ihrer Familie. Gerade so viel von ihnen ist sichtbar, dass man die Grauen der Taten erkennen kann. Neben mir klicken die Kameras der Fotografen. Ein Vertreter des Innenministeriums erklärt, was hier passiert sein soll. Russische Soldaten hätten die Familie erschossen und hier vergraben. Erst vor zwei Tagen hätte man sie gefunden. Anton Gerashchenko wird emotional. Er schreit fast. Beklagt diese mutmaßlichen Kriegsverbrechen, vergleicht Putin mit Hitler und verspricht, das die Täter gefasst werden und dafür bestraft werden.
Ein paar Meter weiter hockt ein junger Mann. Er spricht sehr viel leiser, ist kaum zu verstehen. Tränen laufen über sein Gesicht. Er heißt Ihor und ist ein Verwandter der Opfer. “Da liegt meine Familie. Erschossen von den Russen. Wieso? Wieso haben sie das getan” fragt er. Niemand von uns hat darauf eine Antwort. Wir wissen nicht mal, ob die Täter selber eine hätten.
Butscha ist von den Spuren brutaler Straßenkämpfe gezeichnet

Zeit für ein längeres Gespräch gibt es nicht. Anton Gerashchenko treibt uns immer wieder an. Wir hätten keine Zeit, sie müssten uns noch so viel zeigen. So viel Schreckliches wäre hier passiert.
Mit den alten Busen geht es weiter Richtung Butscha. Immer wieder sehen wir auf den kleinen Straßen mitten im Nirgendwo verlassene Autos. Schwer beschädigt und alle mit Einschusslöchern. Wir wissen: hinter jedem Auto steckt eine Geschichte. Ein Schicksal. Vermutlich ein tragisches. Es sind die Autos der Menschen, die versucht haben, aus dem Gebiet zu fliehen. Wir wissen nicht, was mit ihnen passiert ist, nur dass viele den Versuch nicht überlebt haben, ist längst bewiesen.
Dann erreichen wir Butscha. Die Stadt ist von den Kämpfen gezeichnet. Es sind nicht die großen Zerstörungen wie wir sie aus Mariupol kennen, sondern mehr die Spuren brutaler Straßenkämpfe und heftigem Panzer- und Artilleriebeschuss. Ausgebrannte Geschäfte und Häuser, zerstörte Panzer und Transporter, zivile Autowracks, die teilweise als Stellungen für Soldaten dienten. Dazwischen sehe ich Einwohner, die sich langsam aus ihren Häusern trauen. Sie winken uns zu. Teilweise erleichtert, teilweise noch verschreckt von dem, was hier passiert ist.
Selenskyj sagt: Butscha ist nur die Spitze des Eisbergs
Wir erreichen die Straße, die wegen der vielen Toten tragische Berühmtheit erlangt hat. Viele Leichen hat man weggebracht. Völlig ausgebrannte und zerstörte Panzer zeugen von den heftigen Kämpfen hier. Daneben normale kleine Einfamilienhäuser. Manche zerstört, andere beschädigt, manche völlig unversehrt. Man hat im Krieg kaum Einfluss darauf, ob man getroffen wird oder nicht. Der Zufall bestimmt.
Plötzlich herrscht um uns herum große Aufregung. Der ukrainische Präsident Selenskyj erscheint. Er hat zum ersten Mal seit Kriegsbeginn die relative Sicherheit Kiews verlassen. Er geht ein großes Risiko ein, hierher zu kommen. Jederzeit könnte es einen Luftangriff geben. Es wird eine Nachrichtensperre verhängt, Wir dürfen erst nach einer Stunde darüber berichten. Erst wenn der Präsident dann nicht mehr da sein wird. Aber offenbar möchte man sich nicht darauf verlassen, dass alle sich daran halten. Mit Spezialgerät wird das eh schon schlecht funktionierende Mobilfunknetz nun komplett gestört.
Die Soldaten müssen aber jetzt mehr die aufgeregten Kollegen fürchten als Angriffe. Viele der Journalisten kämpfen um den besten Platz, besonders die Fernseh-Kollegin aus Deutschland macht sich mit ihrem Kameramann bei allen sehr unbeliebt. Drängelt sich vor alle, will unbedingt im Bild mit dem Präsidenten sein. Ihr orangefarbenes Mikrophon soll gut zu sehen sein. Die Soldaten drängen sie zurück. Dann greift der Präsident selbst ein und spricht mit ruhiger und eindringlicher Stimme zu den Journalisten, die sich einfach nicht einigen können. Im Hintergrund stehen Anwohner und können angesichts der Dinge, die hier passiert sein sollen, das Verhalten mancher Journalisten nur schwer verstehen.
Selenskyj spricht dann über die schlimmen Kriegsverbrechen. Er sagt, Butscha wäre nur die Spitze des Eisberges. Noch viel mehr Fälle würde man schon kennen und sie würden nach und nach sichtbar werden. Er spricht von mehr als 1.000 ermordeten Zivilisten. Nicht durch Raketen oder Bomben, sondern bewusst von russischen Soldaten ermordet. Er berichtet von Vergewaltigungen, Folter und wahllosem Töten. Er spricht nicht im Konjunktiv. Er hat keine Zweifel, wer das getan hat und wer dafür verantwortlich ist. Er meint damit Putin. Er verlangt Konsequenzen, harte Strafen, weitere Sanktionen und mehr Waffen.
Er hat das schon am Tag zuvor in Kiew gesagt. Doch nun will auch er offenbar die schrecklichen Bilder und die Aufmerksamkeit der Presse nutzen, um seine Botschaft zu verbreiten. Unsere Tour heute soll auf seinen Wunsch hin organisiert worden sein. Es ist dieses Gerücht und die Tatsache, wie man uns zu den ausgewählten Orten führt, die uns nachdenklich stimmen. Werden hier die mutmaßlichen Kriegsverbrechen für Propaganda genutzt?
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Grauenhafte Szenerie: Im Keller eines Landschulheims liegen fünf gefesselte Männerleichen
Der Verdacht wird sich später noch erhärten. Man bringt uns jetzt zu einer Art Landschulheim. Zwischen Bäumen stehen kleine, zweistöckige Gebäude. Gegenüber große Spielplätze. Man kann erahnen, dass dies hier im Frieden für Kinder ein schöner Platz in den Ferien war. Doch jetzt soll auch hier Grauenhaftes passiert sein. An einem der Häuser führt eine kleine Betontreppe runter in den Keller. In Zweiergruppen lässt man uns runter. Der Kellerraum ist nicht groß. Maximal zehn Quadratmeter. Vor mir liegen fünf Männerleichen. Ihrer Kleidung nach sind es Zivilisten. Manchen von ihnen wurden die Hände hinter dem Rücken mit Kabelbindern gefesselt. Bei einigen kann ich Einschusslöcher im Kopf sehen. Es ist eine grauenhafte Szenerie. Die Männer müssen schon länger tot sein. In der Ecke des Raums steht ein Polizist. Er hält eine Lampe, damit man etwas sieht und nicht über die Leichen stolpert. Er steht hier seit Stunden.
Wir können beobachten, dass hier Spuren gesichert worden sind. Ein Polizist sammelt Patronenhülsen auf. Offenbar aus den Wänden hat man Projektile sichern können. Es könnte wichtige Beweise sein und vielleicht aufklären, was hier passiert ist. Niemand hier weiß im Moment, wer die Männer sind. Angeblich Einwohner aus Butscha. Erschossen von russischen Soldaten, die hier überall neben den Gebäuden Stellungen gegraben hatten, behaupten die Ukrainer.
In der Schnelle der Zeit können wir nichts erkennen, das auf etwas anderes schließen lässt. Kein Hinweis darauf, dass hier etwas nicht stimmen solle. Aber wir haben niemanden finden können, der etwas gesehen hätte und das Wichtigste: Wir sind keine Experten. Die braucht es aber nun dringend.
Braucht es noch diese Art der Präsentation?
Als wir den Keller wieder verlassen haben, können wir beobachten, wie die Leichen vor unseren Augen aus dem Keller getragen werden. Auf dem Rasen hat man fünf Leichensäcke ausgebreitet. Ein Körper nach dem anderem wird nun hochgebracht und in einen Sack gelegt. Aber die bleiben bewusst offen. Vor den Kameras der Weltpresse durchschneidet man erst hier oben die Kabelbinder um die Hände der Toten. Und dann gibt der Vertreter des Ministeriums vor den Toten noch ein Statement, beantwortet Fragen.
Spätestens jetzt habe ich große Zweifel, ob das nötig ist. Natürlich, die Wut ist groß. Und der Schock noch größer. Die Bilder sprengen jede Vorstellungskraft. Sie sind bedrückend und erschütternd. Vieles spricht dafür, dass es wirklich Kriegsverbrechen sind. Begangen von russischen Soldaten. Doch braucht es dann noch diese Art der Präsentation? Reichen die Bilder nicht schon aus, um das Grauen zu transportieren? Haben die Opfer nicht auch Respekt und Würde verdient?
Es sind keine Fragen, die hier gerade gern gehört werden. Entweder man ist für oder gegen die Ukraine. Neutralität macht viele sofort misstrauisch. Ausgesprochene Skepsis beendet oftmals jedes Gespräch. Besonders hier in Butscha. Man kann es sogar verstehen. Diese Menschen haben fast vier Wochen russische Besatzung durchgemacht. Und die Augenzeugenberichte der Menschen lassen hier keinen Platz für kritische Fragen. Trotzdem müssen sie gestellt werden. Trotzdem muss man auf unabhängige Untersuchungen bestehen. Es darf nicht den Ukrainern allein überlassen werden. Es braucht Beweise, die vor einem Gericht Bestand haben und zu Urteilen führen können.
Als wir am späten Nachmittag aus Butscha zurückkommen, ist es ruhiger im Bus als noch am Morgen. Obwohl viele hier schon andere Kriege erlebt haben, verdaut man die Eindrücke des Tages. Nur Stunden später macht schon das nächste Gerücht die Runde. Butscha soll nur der Anfang sein. Es gibt Berichte aus Borodyanka. Weiter entfernt als Butscha. Es heißt, dort soll es noch schlimmer sein.
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