Gynäkologin erklärtVerdrängte Schwangerschaft – das steckt hinter dem Phänomen

Und plötzlich ist das Baby da!
Verdrängte Schwangerschaften sind tatsächlich nicht so selten, wie viele denken. Doch wenn die werdenden Mütter schließlich feststellen, dass sie ein Kind erwarten, sitzt der Schock meist tief. Und nicht nur das: Denn verdrängte Schwangerschaften sind für Mutter und Kind nicht ganz ungefährlich.
Verdrängte Schwangerschaften: Einige Geschichten vergisst man nie
Einige Geschichten vergisst man nie. Ich bin sicher, all meinen Kollegen und Kolleginnen geht es hier so wie mir. Es können besonders traurige, aber auch besonders glückliche Erlebnisse sein, die wir in unserem medizinischen Alltag erlebt haben. Manchmal aber eben auch besonders überraschende.
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Ich durfte bisher zweimal erleben, dass Frauen ihre Schwangerschaft komplett verdrängt haben – obwohl die schon sehr weit fortgeschritten war und die Geburt des Kindes eigentlich kurz bevorstand. Besonders in Erinnerung bleibt mir hier eine mir sehr ans Herz gewachsene Patientin, die sich sogar jahrelang in intensiver Kinderwunschbehandlung befand. Sie und ihr Partner hatten bereits mehrere, leider erfolglos Versuche einer künstlichen Befruchtung hinter sich. Der Traum des Wunschkindes wurde dennoch nicht erfüllt.
„Wie konnte ich das nicht merken?“
Und dann saß sie eines Montagmorgens als erste Patientin in meinem Sprechzimmer, völlig aufgelöst und den Tränen nahe. Als ich sie fragte, was denn passiert sein, sah sie mich an und antwortete: „Ich bin schwanger!“
Ich muss zugeben, dass ich zunächst etwas irritiert war. Schließlich hatte ich sie in den vergangenen Jahren aufgrund ihres Kinderwunsches begleitet. Das letzte Mal hatte ich sie zur Vorsorge vor etwa einem Jahr gesehen. Sie und ihr Partner hatten sich zu diesem Zeitpunkt dazu entschlossen, eine Pause der hormonellen Therapien im Kinderwunschzentrum einzulegen. Und jetzt saß sie vor mir und schien verzweifelt über die vorliegende Schwangerschaft zu sein. „Das Kind soll in etwa vier Wochen auf die Welt kommen.“
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Da musste auch ich mich erst einmal setzen. Äußerlich war meiner Patientin nicht anzusehen, dass sie ein Kind erwartete. Sie war eine junge, attraktive Frau, schon immer etwas mehrgewichtig. Unter ihrem weiten Pullover hätte ich auf den ersten Blick keine Schwangerschaft vermutet.
„Ich war am Wochenende in der Notaufnahme der Uniklinik, weil ich so furchtbar dicke Beine bekommen habe“, erzählte die Patientin. „Alles voller Wasser! Ich habe im Internet nachgeschaut und dort stand, dass das ein Hinweis darauf sein könnte, dass meine Nieren nicht richtig funktionieren. Ich habe Angst bekommen und wollte es abklären lassen. Beim Ultraschall wurde ich dann plötzlich gefragt, wann ich denn meine letzte Menstruation hatte. Sie wissen ja, dass sie bei mir nie regelmäßig kam. Schon als ich ein junges Mädchen war, kam sie manchmal monatelang nicht. Ich konnte mich also nicht wirklich daran erinnern. Sie haben mir dann zu meiner Schwangerschaft gratuliert.“
Sie fing an zu weinen. „Erst habe ich mich wahnsinnig gefreut. Dann kam aber eine Frauenärztin dazu und hat sich das Baby genauer angeschaut. Ich bin schon etwa in der 36. Schwangerschaftswoche! Wie ist das möglich? Wie konnte ich das nicht merken?“
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Eine verdrängte Schwangerschaft ist gar nicht so selten
Verständlicherweise war meine Patientin völlig schockiert. Eine verdrängte Schwangerschaft ist vor allem für die betroffenen Frauen zunächst einmal sehr belastend. Was viele nicht wissen: So etwas kommt überhaupt nicht so selten vor, wie man vielleicht glauben mag! Untersuchungen zeigen, dass eine von 500 Schwangerschaften erst nach der 20. Schwangerschaftswoche, also nach dem fünften Monat, bemerkt wird. Eine von 2.500 Schwangerschaften endet sogar unwissend (!) in der Geburt.
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Doch wie kann das sein? Die Gründe dafür sind vielfältig und individuell. Vermutet wird ein innerer Konflikt, weswegen die Schwangerschaft komplett ins Unterbewusstsein geschoben wird. Typische Symptome wie zum Beispiel Übelkeit oder Erbrechen werden als Nahrungsmittelintoleranz umgedeutet, der wachsende Bauch mit ungesunder Ernährungsweise und wenig sportlicher Aktivität in der letzten Zeit.
Da Frauen, die nicht wissen, dass sie schwanger sind, weniger auf eine ausgewogene Ernährung achten und möglicherweise auch Alkohol trinken und/oder rauchen, sind die Kinder öfter kleiner als gewöhnlich. Möglicherweise ziehen die Schwangeren zudem unbewusst den Bauch ein, um die vorliegende Schwangerschaft weiter nicht wahrnehmen zu müssen.
Verdrängte, verleugnete oder verheimlichte Schwangerschaft?
Fachleute unterscheiden zwischen der verdrängten und verleugneten Schwangerschaft.
Bei der verdrängten Schwangerschaft kommen die Frauen tatsächlich gar nicht auf die Idee, schwanger zu sein. Häufig gibt es dafür, wie bei meiner Patientin, auch gute Gründe. Sie war sich absolut sicher, nicht auf natürliche Art und Weise schwanger werden zu können – obwohl sie sich das jahrelang sehr gewünscht hat.
Bei der verleugneten Schwangerschaft ist das Wissen eigentlich da, Veränderungen werden wahrgenommen, aber komplett ins Unterbewusstsein „verbannt“. Bei beiden Formen ist die Schwangerschaft für die Frauen nicht existent. Sie werden irgendwann selbst völlig davon überrascht. Davon abzugrenzen ist die verheimlichte Schwangerschaft, bei der die Frauen bewusst versuchen, den wachsenden Bauch zu kaschieren und auch sonst alle Anzeichen verstecken.
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Übrigens bedeutet weder eine verdrängte noch eine verleugnete Schwangerschaft, dass die Frau das Kind nicht haben möchte und erst recht nicht, dass sie keine großartige Mutter sein wird. Es gibt außerdem keinen „klassischen Frauentyp“, der dazu neigt, eine Schwangerschaft ins Unterbewusstsein zu verlegen. Theoretisch kann es jede Frau in jedem Alter aus jeder sozialen Schicht treffen.
Die Frauen können sogar schon einmal schwanger gewesen und bereits Mutter sein. Eine neuere Untersuchung zeigt allerdings eine Risikoerhöhung bei jungen Frauen, bei Frauen, die in keiner festen Partnerschaft leben, einen niedrigeren Schulabschluss haben und unter einer psychiatrischen Erkrankung leiden.

Die Frauen brauchen eine besondere Unterstützung!
Ganz wichtig ist, dass die Frauen, die spät von ihrer Schwangerschaft erfahren, gut aufgefangen und unterstützt werden. Hier sind jetzt die Familie, der Partner (wenn vorhanden), die Frauenärztin und auch die Hebamme besonders gefragt. Oft schämen sich die Betroffenen, dass sie nicht gemerkt haben, schwanger zu sein und machen sich selbst große Vorwürfe. Nicht selten kann es für sie zunächst auch schwierig sein, eine stabile und unbelastete Mutter-Kind-Beziehung aufzubauen.
Meine Patientin belastete vor allem, dass sie keine regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen hat durchführen lassen und nicht so auf ihre Ernährung und Gesundheit geachtet hat, wie sie es mit dem Wissen um eine Schwangerschaft getan hätte. Ihr großes Glück war die liebevolle und uneingeschränkte Unterstützung durch ihren Ehemann und ihre Familie. Ihr Baby ließ noch länger als 4 Wochen auf sich warten. Darüber war sie erleichtert – denn so hatte sie noch genügend Zeit, die Ankunft ihrer Tochter ausreichend vorzubereiten.
Dieser Artikel erschien erstmals am 16.10.2023.