Verschwunden nach Protest im russischen Staatsfernsehen
Die mutigste Frau Russlands: Wo ist Marina Ovsyannikova?
Nur sechs Sekunden hat ihr Auftritt im russischen Staatsfernsehen gedauert. Trotzdem hat Marina Ovsyannikova damit vielleicht Tausende zum Nachdenken angeregt. Mit einem „No war“-Plakat hatte sich die Russin am Montagabend in die wichtigste Nachrichtensendung des russischen Fernsehens gestellt, um so gegen Putins Krieg in der Ukraine zu protestieren. Nach ihrer Protestaktion soll sie festgenommen worden sein – nun ist sie offenbar spurlos verschwunden.
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Mutiger Protest mitten in den kremltreuen Hauptnachrichten
Es ist Montagabend, 21.00 Uhr in Moskau, auf „Kanal Eins“ läuft die Nachrichtensendung „Wremja“. Mitten in einer Anmoderation springt auf einmal eine Frau ins Bild. Sie hält ein Schild hoch, auf englisch und russisch steht dort: "Kein Krieg. Stoppt den Krieg. Glauben Sie nicht der Propaganda. Sie belügen Sie hier." Die Frau ruft: "Stoppt den Krieg. Nein zum Krieg." Nur wenige Sekunden ist sie zu sehen. Die Nachrichtensprecherin ignoriert sie, spricht nur etwas lauter. Dann wird zu einem voraufgezeichneten Beitrag geschaltet, zu sehen sind Krankenhausbilder.
„Kanal Eins“ gehört zum russischen Staatsfernsehen. Berichtet wird nur das, was der Kreml auch berichten lassen will. Das Wort „Krieg“ oder gar wahrheitsgetreue Berichte über das, was derzeit in der Ukraine passiert, gehören nicht dazu. Doch für viele Russen ist der Kanal die Hauptnachrichtenquelle.
Demonstrantin Marina Ovsyannikova soll selbst ehemalige Mitarbeiterin von "Kanal Eins" sein
Die Demonstrantin ist übereinstimmenden Medienberichten zufolge Marina Ovsyannikova, nach eigenen Angaben eigentlich selbst Mitarbeiterin bei „Kanal Eins“. Über die Menschenrechtsorganisation OVD-Info hat sie am Abend vorher bereits eine Videobotschaft verbreitet. „Ich habe selbst für Kanal Eins gearbeitet, ich habe selbst an der Propaganda des Kreml mitgearbeitet – jetzt schäme ich mich dafür. Schäme mich, dass ich Lügen über den Fernsehbildschirm verbreitet habe. [...] Was in der Ukraine passiert, ist ein Verbrechen, und Russland ist der Aggressor. Die Verantwortung dafür liegt bei einer einzigen Person: Wladimir Putin“, heißt es in ihrem Video.
Ovsyannikova erklärt in der Botschaft, dass ihr Vater selbst aus der Ukraine stamme, während ihre Mutter Russin sei. „Sie waren nie Feinde“, sagt sie. Dabei trägt sie eine Kette in den Farben der ukrainischen und der russischen Flaggen, die miteinander verbunden sind. „Die Kette um meinen Hals ist ein Symbol dafür, dass Russland diesen Mord am Brudervolk sofort stoppen muss.“
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Im Video: Aufgezeichnete Botschaft von Marina Ovsyannikova
Neues Mediengesetz: Russischer Demonstrantin könnten bis zu 15 Jahre Haft drohen
Kurz nach dem Protest-Auftritt in den russischen Hauptnachrichten hatte die Organisation „OVD-Info“ und die russische Nachrichtenagentur Tass übereinstimmend gemeldet, dass Ovsyannikova von der Polizei festgenommen worden sei. Die Ermittler prüfen demnach, ob sie nach einem neuen Gesetz bestraft werden könne, dass für eine Diskreditierung der Streitkräfte bis zu 15 Jahren Haft vorsieht.
Das Gesetz wurde acht Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine erlassen und macht öffentliche Aktionen, die darauf abzielen, die russische Armee in Misskredit zu bringen, strafbar. Ebenso ist es für Medien verboten, im Bezug auf die Ukraine von „Krieg“ oder einer „Invasion“ zu sprechen – stattdessen ist stets von einer „militärischen Spezialoperation“ die Rede.
Anwälte erreichen Marina Ovsyannikova nicht mehr
Seit ihrer angeblichen Festnahme ist unklar, wo sich Ovsyannikova aktuell aufhält. Nach RTL-Informationen befindet sie sich nicht mehr in der Polizeistation neben dem Fernsehsender in Moskau, wo sie zunächst festgehalten worden sein soll.
Auch der Sprecher des EU-Chefdiplomaten Josep Borrell geht davon aus, dass die Frau verschwunden ist. „Ihre Anwälte dürfen keinen Kontakt zu ihr aufnehmen“, sagte er am Dienstag.
Die britische BBC berichtet ebenfalls, dass mehrere Anwälte derzeit verzweifelt versuchten, Ovsyannikova zu erreichen. „Das bedeutet, dass ihr ein rechtlicher Beistand verwehrt wird – vermutlich versuchen die russischen Behörden, die strengstmögliche Strafe für sie vorzubereiten“, sagte eine der Anwältinnen der BBC.
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Kremlsprecher bezeichnet Protest als "Rowdytum"
Auch der Kreml selbst hat auf die Aktion von Ovsyannikova reagiert und ihren Protest scharf kritisiert. „Was dieses Mädchen angeht, das ist Rowdytum“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag der Agentur Interfax zufolge. Allerdings müsse der Fernsehsender die Angelegenheit regeln, es sei nicht Aufgabe des Kreml. (vdö/dpa/Reuters)
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