Kinder via Chat-App "Likee" sexuell missbrauchtUm Täter zu entlarven: Vater gibt sich als seine Tochter (10) aus
„unicorn_lisa13“ nannte sich ein damals 25-Jähriger auf der Kurzvideo-Plattform „Likee“. Als Lisa sprach er Mädchen an, überredete sie reihenweise dazu, ihm Nacktfotos und -videos zu schicken, drohte ihnen und erpresste sie. Philipp W., der Vater eines der Opfer, zeigte den Missbrauch an, nachdem seine damals zehnjährige Tochter sich ihren Eltern anvertraut hatte. „Wenn es im eigenen Wohnzimmer passiert, da kommen Gefühle hoch, die kann keiner beschreiben“, sagt er im RTL-Interview. Der Angeklagte wurde im Dezember 2020 zu 22 Monaten auf Bewährung verurteilt. Wie Philipp W. dabei half, ihn zu überführen, sehen Sie im Video.
Morddrohungen und Strafzahlungen als Druckmittel
Das Vorgehen des Täters schien immer das gleiche zu sein: Zwischen Dezember 2018 und Dezember 2019 soll er Mädchen mittels der „Likee“-App ausspioniert und sich zunächst ihre Videos angeschaut haben, „um festzustellen, ob sie seiner Opfergruppe entsprechen“, so die Staatsanwaltschaft. Dann habe er die Kinder gezielt kontaktiert, ihnen (kinder-)pornografische Schriften geschickt oder sexualisiert auf sie eingeredet (sogenanntes Cybergrooming). Anschließend soll er sie aufgefordert haben, entsprechende Fotos und Videos von sich selbst zu machen und ihm zu schicken.
Mehr zum Thema: Sexueller Missbrauch – schon der Versuch ist strafbar
Teilweise soll der Täter den Kindern mit Strafzahlungen gedroht haben, sollten sie seine Wünsche nicht erfüllen, sagte Opferanwalt Bernd D. Wermuth. Der Angeklagte habe seiner Tochter sogar gesagt, er würde ihre Familie töten, wenn sie die Fotos nicht schickt, so Philipp W. im RTL-Interview. Etwas, das den Vater unendlich wütend macht. „Die fühlen sich ja wehrlos, die haben Angst. Das macht es als Vater dann umso schlimmer, wenn man dem Kind nicht helfen kann, genau in dem Moment.“
Die Öffentlichkeit wurde von dem Prozess nach einem Antrag des Verteidigers noch vor der Anklage-Verlesung ausgeschlossen. W. hätte sich das anders gewünscht. „Ich denke, dass jeder Vater der Geschädigten oder auch jede Mutter das Recht hat, ihm in die Augen zu schauen – und er muss den Leuten auch in die Augen schauen.“ Der Täter sei so „erbärmlich, dass er sich nur bei den Eltern entschuldigen will und nicht bei den Kindern selber.“ Diese Aussage sei für Philipp W. besonders belastend gewesen.
"Täter ist nicht mehr der dunkel gekleidete Mann auf der Straße"
Der zehnjährigen Tochter von Philipp W. wurde ein Schmerzensgeld von 4.000 Euro zugesprochen. Anwalt Wermuth erklärt, eine finanzielle Entschädigung könne zwar nicht das Leid kompensieren, aber zumindest eine gewisse Genugtuung bringen. So sieht es auch Vater Philipp W. „Geld macht das Ganze nicht wieder gut. Die Seele ist ja geschunden. Wenn man unsere Tochter sieht, wenn es um das Thema geht, fließen Tränen.“
Dem Anwalt zufolge kam der Fall auch wegen der Hartnäckigkeit der Eltern ans Licht. „Der Täter ist eben nicht mehr der dunkel gekleidete Mann auf der Straße, oder der die Kinder vorm Spielplatz anspricht“, so Wermuth. Man habe es mittlerweile mit einer neuen Tätergeneration zu tun, „die über die neuen Kommunikationsmittel an die Kinder herankommen“. Er hoffe, dass der Prozess dazu führt, dass Eltern „da ein Auge drauf haben".
Aus diesem Grund spricht auch Philipp W. offen mit uns. Sein Ziel ist es, Eltern für diese neuen Gefahren zu sensibilisieren und Kinder zu ermutigen, sich ihren Eltern anzuvertrauen, wenn sie sich belästigt fühlen.
1.500 Bilddateien von kleinen Mädchen in sexualisierten Posen
Polizisten hatten bei dem Angeklagten 1.500 Bilddateien von kleinen Mädchen in sexualisierten Posen gefunden, als sie seine Wohnung Ende 2019 durchsuchten. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf hatte Fälle von vier Opfern angeklagt: Ein damals zehn Jahre altes Mädchen habe der Mann als angeblich 13-jährige Lisa mehrere Tage lang in sexualisierte Gespräche verwickelt, bis das Kind mindestens 20 Bild- beziehungsweise Videodateien aufnahm und sie an den Angeklagten schickte. Auch soll er sie „vergeblich aufgefordert haben, sexuelle Handlungen mit ihrem Bruder und ihrer Freundin vorzunehmen“, so die Ankläger. Die zehnjährige Freundin des mutmaßlichen Opfers habe er ebenfalls kontaktiert und überredet, kinderpornografische Bilder von sich aufzunehmen und ihm zuzuschicken. Ein Mädchen habe sich seiner Mutter anvertraut, die daraufhin zur Polizei ging und Anzeige erstattete.
Dort waren die Eltern nach Angaben des WDR zunächst jedoch wieder nach Hause geschickt worden. Eine Beamtin habe ihnen damals mitgeteilt, dass es nicht möglich sei, den Täter zu ermitteln, weil die App von Singapur aus betrieben werde. Ermittlungen seien in diesem Fall aussichtslos. Diese Aussage hat die Polizei später korrigiert.
Wegen der gleichen Vorgehensweise hatte das Gericht im April 2020 einen Bauarbeiter aus Neuss zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.
Cyber-Kriminologe gibt Eltern vier Tipps an die Hand
Für Eltern ist das Wissen um die dunklen Gestalten, die scheinbar unkontrolliert im Internet ihr Unwesen treiben können, beängstigend. Zumal sie in den allermeisten Fällen nicht erfahren, wenn ihr Kind belästigt wurde. Cybergrooming sei im Netz trauriger Alltag, sagt der Cyberkriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger. Opfer würden sexuelle Übergriffe teilweise als "normal", allenfalls noch als "lästig" wahrnehmen, jedoch nicht immer als das, was sie sind, nämlich Straftaten.
Selten komme es wie im vorliegenden Fall zur Anzeige, die Dunkelziffer sei extrem hoch. "Ich gehe davon aus, dass sich annähernd kein Kind im Internet bewegt, ohne mit einem Täter zumindest einmal konfrontiert zu werden." Väter und Mütter müssen Experten, Erklärbär, Vertrauensperson und Vorbild sein, um ihre Kinder zu sensibilisieren, aufzuklären und Gefahren selbst richtig einschätzen zu können, so der Experte. Was er Eltern empfiehlt, um ihre Kinder vor Cybergrooming zu schützen, sehen Sie hier.