Experte: "Wir werden einige Fehler bitter bereuen"Niederlande, Frankreich, Spanien: Alle lockern - warum wir nicht?

Schon beim Thema Impfen haben wir ja neidisch ins Ausland geschaut, wo es einfach schneller und besser klappt als bei uns. Und jetzt gucken wir schon wieder sehnsüchtig in andere europäische Länder. In den Niederlanden öffnen Geschäfte und die Außengastronomie. In Frankreich sind Schulen wieder auf. Und das, obwohl all diese Länder höhere Inzidenzen haben als wir hier. Das wollten wir gerne verstehen und haben mit Experten gesprochen. Warum kann Deutschland nicht öffnen?
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Ansteckungsgefahr bei Veranstaltungen unwahrscheinlich

Es sei wichtig, Studien zu machen. Das sei ein kritikwürdiger Punkt in Deutschland, sagt Virologe Dr. Klaus Stöhr. In Spanien ist genau das passiert. In Barcelona gab es Ende März ein Testkonzert. 5.000 Menschen haben dicht an dicht gefeiert, mit Maske und mit negativem Test. Das Ergebnis jetzt: Nur bei 2 von 5000 Konzertbesuchern gibt es den Verdacht, sich hier angesteckt zu haben. Klaus Stöhr sagt im RTL-Interview, er habe das mal für das Münchener Fußballstadion gecheckt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei 14.000 Zuschauern jemand infiziert, sei demnach so groß „wie, wenn ein Flugzeug vom Himmel fällt oder jemand vom Blitz erschlagen wird.“

Inzidenzen in andern Ländern doppelt so hoch

Aber warum können andere Länder öffnen und in Deutschland geht das nicht? Und das obwohl die Inzidenzzahl in Deutschland wesentlich geringer ist. „Ich glaube, Deutschland entkoppelt sich von der Pandemiebekämpfung in den anderen Ländern“, so Stöhr. Hohe Inzidenzen für deutsche Verhältnisse würden in anderen Ländern zu Öffnungsschritten führen. „Also hier läuft etwas fundamental unterschiedliches“, meint der Virologe.

Aber warum sträubt sich die Politik so? Dr. Christian Zinn, Direktor Hygienezentrum Bioscientia, hat dazu eine klare Meinung: „Das ist aus meiner Sicht Angst, weshalb diese Sachen [Kitas Außengastronomie, Anm. der Redaktion] nicht geöffnet werden. Wir sehen in anderen Ländern, dass es möglich ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir als Deutsche nicht gerne über die Grenzen schauen. Madrid zum Beispiel hatte schon im Frühjahr die Außengastronomie offen, ohne dass die Inzidenzzahlen explodiert sind.“ Da könne man sich etwas bei anderen abschauen. „Und jetzt, wo große Teile der älteren Bevölkerung geimpft sind und die Todeszahlen sinken, können wir auch etwas mehr riskieren als letztes Jahr um die Zeit.“

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Große Unterschiede bei der Belegung von Intensivbetten

Ein weiterer Punkt, der in Deutschland bei vielen für Unverständnis sorgen dürfte, ist die Belegung der Intensivbetten. Die Anzahl an Intensivbetten sei laut Stöhr in anderen Ländern mindestens um die Hälfte geringer und trotzdem gehe man die Öffnungsschritte. „In anderen Ländern laufen auch die Intensivstationen nicht über.“ Sie seien zwar teilweise am Limit, aber die würden das als Notsituation ansehen. „In Deutschland sagt man ja auch ‘die schlimmste Krise seit dem zweiten Weltkrieg’. Und in dieser Notfallsituation haben wir 20 Prozent der Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt.“

In Frankreich öffnen Kitas und Schulen - und in Deutschland?

Während in Deutschlands Schulen noch Distanzunterricht gilt und die Kitas mit Notbetreuung laufen, öffnen sie in anderen Ländern wieder. Virologe Stöhr dazu im RTL-Interview: „Es ist, glaube ich, langsam für alle gesichertes Wissen, dass sich die Kinder unter 12 Jahren häufiger bei ihren Eltern anstecken als andersherum. Wie viele Studien braucht es da noch, um das in die Köpfe der Meisten hineinzubekommen? Natürlich nehmen Kinder am Infektionsgeschehen teil, aber man hat in anderen Ländern offensichtlich verstanden, dass es sich nicht lohnt, dass es unvernünftig wäre in dem großen Zusammenhang zuerst die Schulen zuzumachen.“ Der Zusammenhang, die Schulen zuzulassen und gleichzeitig Alten- und Pflegeheime nicht richtig zu schützen, das passe einfach nicht, so Stöhr.

Auch Dr. Zinn sagt, es sei problemlos möglich, Kitas und Schulen zu öffnen. Und das müsse man auch tun. „Wir sind in einigen Bereichen zu vorsichtig“, kritisiert er. „Und ich glaube, dass wir einige Fehler, die wir momentan machen, bitter bereuen werden.“

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