"Muss noch ein Mord passieren, dass hier irgendwie gehandelt wird?"Drei mutmaßliche Mörder in Bremen aus U-Haft entlassen - Schwester des zerstückelten Opfers ist entsetzt

von Konrad Rampelt

Eine vermeintliche Justiz-Panne sorgt für mächtig Ärger! Monatelang sitzen drei Männer in Bremen in Untersuchungshaft, warten dort auf ihren Mord-Prozess. Sie werden verdächtigt, im April 2020 Marco W. in der Bremer Neustadt getötet zu haben. Die Leiche sollen sie zerstückelt und in Niedersachsen verscharrt haben. Doch jetzt sind die mutmaßlichen Mörder wieder auf freiem Fuß – obwohl der Prozess gegen sie noch nicht mal begonnen hat. Ein Justiz-Skandal wie er im Buche steht! Für Lisa-Marie Michalke, der Schwester des Getöteten, ist das alles ein böser Albtraum.

Marco W. zerstückelt - Haftbefehl mutmaßlicher Mörder "auflagenfrei" aufgehoben

Rechtsanwalt Roman von Alvensleben im RTL-Interview
Der Anwalt der Nebenklage: Roman von Alvensleben aus Hameln
RTL

Dabei hat das Bremer Oberlandesgericht nach dem Gesetz entschieden. Darin steht, dass eine U-Haft nicht länger als sechs Monate dauern darf. Hat die Verhandlung bis dahin nicht begonnen, müssen die Angeschuldigten wieder freigelassen werden. Ursprünglich sollte der Prozess Ende Mai beginnen, doch das ist zu spät. Als Grund nennt die zuständige Kammer die schwierige Einarbeitung in den Fall: „Alleine die Hauptakte enthält mittlerweile ca. 2.200 Blatt. Hinzukommen eine Vielzahl von Sonderakten und Sonderheften.“

Für Lisa-Marie Michalke ist das alles nicht zu verstehen: „Es ist unbeschreiblich, ich habe keine Worte dafür. Fassungslos! Was ist, wenn da jetzt noch etwas passiert? Muss noch ein Mord passieren, dass hier irgendwie gehandelt wird? Kann ja sein. Man kann denen alles zutrauen. Man muss denen auch alles zutrauen.“ Ungeheuerlich: Dass die drei mutmaßlichen Mörder ihres großen Bruders wieder auf freiem Fuß sind, erfuhr Lisa-Marie Michalke aus der Presse!

Solch dilettantisches Verhalten in der Bremer Justiz kann auch ihr Anwalt Roman von Alvensleben nicht nachvollziehen. „Das hätte ich erwartet. Dass man angerufen und der Fehler eingestanden wird. ‘Zeig deine Wunden’, hat der Künstler Joseph Beuys mal gesagt. Da muss man dann auch Fehler eingestehen“, so der Nebenklage-Anwalt im RTL-Interview.

Übrigens: Der Haftbefehl wird auflagenfrei aufgehoben. Haftgründe, die man klassisch in der Strafprozessordnung hat, sind verbraucht, bedeutet: Die mutmaßlichen Mörder könnten ihren Sommer beispielsweise auf Mallorca in Freiheit verbringen. All das wäre völlig legal.

Ob die Ermittlungsbehörden die Angeschuldigten nun observieren – völlig unklar. Genauso wie der aktuelle Wohnort der drei Verdächtigen.

Komplexität des Mordfalls Schuld an Bremer Justiz-Chaos?

Thorsten Prange, Pressesprecher am Landgericht Bremen
Der Vorsitzende Richter und Pressesprecher am Landgericht Bremen, Thorsten Prange
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Doch warum hat der Prozess eigentlich noch nicht begonnen? Fest steht: Die Anklage lag seit Anfang Februar zumindest bei Gericht auf dem Schreibtisch. Im April seien Termine innerhalb der Frist angedacht gewesen. Die Hauptverhandlung wurde jedoch nie eröffnet.

„Es gab im Endeffekt zwei Gründe, die hier zu einer Überschreitung der 6-Monats-Frist geführt haben“, weiß Thorsten Prange vom Landgericht Bremen. „Das sind zum einen diese schwierigen Ermittlungen, die die Kammer nochmal ausdrücklich angeordnet hat, um auch sicher zu sein, dass diese Angeschuldigten mit einer Hauptverantwortung überzogen werden dürfen. Und andererseits war dieses Schwurgericht extrem hoch belastet gewesen“, so der Richter.

Außerdem habe die Kammer Nachtermittlungen angestellt, die Rede ist auch von 3.400 Whatsapp-Mitteilungen, die ausgewertet werden müssen. Offenbar habe es Zweifel an der Schuld der mutmaßlichen Täter gegeben.

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Untersuchungshaft und die Sechs-Monats-Frist

Die 6-Monats-Frist schützt den Beschuldigten davor, dass er unberechtigt länger als sechs Monate in U-Haft verbringt, ohne dass mit der Hauptverhandlung begonnen wird. Aber: Aus einem wichtigen Grunde kann diese Frist verlängert werden. Das kann jedoch nur das Oberlandesgericht tun. Die Kammer, also das Bremer Landgericht, hat diesen wichtigen Grund vor allen Dingen in der Komplexität der Ermittlungen und der angeordneten Nachermittlungen gesehen. Darauf sei aber das Oberlandesgericht nicht eingegangen, so der Sprecher des Bremer Landgericht Thorsten Prange.

Richterbund macht Überlastung für den Fall verantwortlich und fordert Personal

Der Bremische Richterbund, so etwas wie die Gewerkschaft der Richter in Bremen, sieht in diesem Einzelfall ein strukturelles Problem. Es fehle seit Jahren an Richtern und Staatsanwälten. „Die personelle Ausstattung der Justiz im Land Bremen ist völlig unzureichend. Die Strafkammern des Landgerichts Bremen arbeiten seit Jahren am Limit“, so Andreas Helberg. Der Richterbund fordert mehr Personal, um künftig weitere Haftentlassungen zu vermeiden.

Wer hat Schuld am Bremer Justiz-Chaos? Rechtsanwalt spricht über Schilling-Rücktritt

Frank Molter
Die Senatorin für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen: Claudia Schilling von der SPD
deutsche presse agentur

Dass der Personalmangel am Landgericht schuld sei, dass die Angeschuldigten aus der U-Haft entlassen werden mussten, weißt die Bremer Justizsenatorin Claudia Schilling (SPD) entschieden von sich. In den vergangenen Jahren habe das Landgericht immer mehr Mitarbeiter bekommen, von einer Überlastung sei vor der Entlassung der Männer keine Rede gewesen.

Der Schaden ist jedoch immens, meint auch Nebenklage-Anwalt Roman von Alvensleben. „Das ist einfach ein Organisations-Problem bei der Kammer und das darf nicht passieren. Es geht hier um Menschenleben, es geht um Kapital-Verbrechen, es geht um etwas, das wir nicht mal beim Tatort sehen wollen, was da passiert ist. Und das ist einfach schlimm.“

Es müsse ganz genau durchleuchtet und offen gelegt werden, was hier an Fehlern passiert sei und welche Defizite im juristischen Unterbau der Bremer Justiz vorliegen. „Man kann nicht überall sein, aber dann muss man eben die Verantwortung nehmen und dann muss man eben sagen, ich bin dem Ganzen nicht gewachsen und zurücktreten“, meint der Rechtsanwalt.

Der Bremer Mordfall Marco W.

Marco W. wurde mutmaßlich von seinen Mietern in der Bremer Neustadt bestialisch ermordet. Seine zerstückelte Leiche in Niedersachsen auf einem Feld in Posthausen verteilt. Für die Polizeibeamten beginnt die Suche nach dem 46-Jährigen zuerst als Vermisstenfall.

„Ich konnte meinen Bruder nicht mehr erreichen. Als ich dann vor Ort war und seinen Briefkasten gesehen habe, wusste ich direkt, da stimmt etwas nicht. Der ist übergequollen. Und ich kenne meinen Bruder, er ist ein sehr sorgfältiger Mensch und er kümmert sich um seine Dokumente und seine Papiere. Von da an war klar, hier stimmt etwas nicht“, erinnert sich die kleine Schwester Lisa-Marie Michalke. Nach fünf Monaten, im September 2021 gibt es die ersten Hinweise auf ein Tötungsdelikt. Im Oktober und November werden die Männer dann festgenommen – der Fall entpuppt sich als sehr komplex und er dauert an.

Lisa-Marie Michalke wünscht sich endlich Gerechtigkeit für ihren ermordeten Bruder

Lisa-Marie Michalke wünscht sich Gerechtigkeit für ihren ermordeten Bruder.
Lisa-Marie Michalke (28) wünscht sich nur noch eins: Gerechtigkeit für ihren ermordeten Bruder.
RTL

Ganz offensichtlich kommen in diesem Fall etliche Faktoren zusammen, die zum Bremer Justiz-Chaos führten. Da wären eine immer komplexer werdende Faktenlage mit umfangreichem Beweismaterial wie Whatsapp-Nachrichten, sowie eine offenbar chronische Unterbesetzung der Behörden. Außerdem würden auch weitere Leichenteile immer noch gesucht werden. Tatsächlich kommt es extrem selten vor, dass Häftlinge aus der U-Haft vorzeitig freigelassen werden.

Für Lisa-Marie Michalke ist das jedoch kein Trost. Denn sie wünscht sich endlich Gerechtigkeit für ihren ermordeten Bruder: „Ich habe einfach nur das Bedürfnis zu kämpfen, dass die mutmaßlichen Täter ihre gerechte Strafe bekommen“, sagt die 28-Jährige im RTL-Interview. „Und natürlich möchte ich endlich meinen Bruder beerdigen, weil das ist im Moment nicht möglich“, erzählt sie. „Das ist sehr belastend.“

Das Bremer Landgericht geht jetzt davon aus, dass die Verhandlung im Sommer beginnen kann – so lange sich die drei Angeschuldigten bis dahin nicht längst abgesetzt haben.