Die meisten waren seine Patienten

Chirurg soll fast 300 betäubte Kinder missbraucht haben

Gerichtsskizze von Joel Le Scouarnec bei seinem ersten Prozess im Jahr 2020.
Gerichtsskizze von Joel Le Scouarnec bei seinem ersten Prozess im Jahr 2020.
AFP

Hätte er schon früher gestoppt werden können?
Ein ehemaliger Chirurg wird beschuldigt, in Frankreich hunderte junge Patienten missbraucht zu haben – oft während sie unter Narkose standen. Jetzt soll er im größten Kindesmissbrauchsprozess der französischen Geschichte vor Gericht gestellt werden.

299 Kinder betroffen – FBI warnte

Der 73-jährige Joel Le Scouarnec wird beschuldigt, 299 Kinder missbraucht oder vergewaltigt zu haben. Die meisten von ihnen sollen ehemalige Patienten von ihm gewesen sein. Die Taten sollen sich zwischen 1989 und 2014 hauptsächlich in der französischen Bretagne zugetragen haben. Der Prozess gegen ihn beginnt am 24. Februar im nordwestfranzösischen Vannes. Ihm gingen jahrelange, sorgfältige polizeiliche Ermittlungen voraus. Le Scouarnec habe derweil einige, aber nicht alle Anklagepunkte zugegeben.

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Dies wirft die Fragen auf, ob Le Scouarnec möglicherweise von seinen Kollegen und der Leitung der Krankenhäuser, in denen er beschäftigt war, geschützt wurde. Und das, obwohl das FBI die französischen Behörden gewarnt habe, der Chirurg habe Websites mit Kindesmissbrauch besucht. In Folge dessen wurde er lediglich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Wie die BBC berichtet, seien mehrere Gelegenheiten, den ehemaligen Chirurgen vom Kontakt mit Kindern abzuhalten, offenbar verpasst oder abgelehnt worden. Auch wird behauptet, Mitglieder seiner eigenen Familie hätten von der Pädophilie des Mannes gewusst – ihn jedoch nicht davon abgehalten. „Es war die Omertà der Familie, die dazu führte, dass sein Missbrauch jahrzehntelang weitergehen konnte“, erklärt ein mit dem Fall befasster Anwalt gegenüber der BBC.

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Chirurg sitzt bereits hinter Gittern

Le Scouarnec, einst ein angesehener Kleinstadtchirurg, sitzt seit 2017 im Gefängnis. Damals wurde er festgenommen, weil er seine Nichten sowie ein sechsjähriges Mädchen und eine junge Patientin vergewaltigt haben soll. 2020 wurde er zu 15 Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Festnahme durchsuchte die Polizei sein Haus und fand Sexpuppen in Kindergröße, über 300.000 Abbildungen von Kindesmissbrauch und tausende Seiten sorgfältig geführter Tagebücher, in denen Le Scouarnec angeblich über einen Zeitraum von 25 Jahren die Übergriffe auf seine jungen Patienten dokumentierte. Er stritt ab, Kinder angegriffen oder vergewaltigt zu haben und argumentierte, in seinen Tagebüchern seien lediglich seine „Fantasien“ geschildert worden. An mehreren Stellen soll er allerdings geschrieben haben: „Ich bin ein Pädophiler.“

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Ehemalige Patienten erinnern sich

Gegen Le Scouarnec liegen mehr als 100 Anklagen wegen Vergewaltigung und über 150 Anklagen wegen sexueller Nötigung vor. Einige seiner ehemaligen Patienten, die inzwischen alle erwachsen sind, könnten sich nach Angaben der BBC daran erinnern, dass der Chirurg sie unter dem Vorwand medizinischer Untersuchungen berührt habe – manchmal sogar, wenn ihre Eltern oder andere Ärzte im Raum waren.

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Da der Großteil seiner mutmaßlichen Opfer zum Zeitpunkt der angeblichen Übergriffe unter Narkose standen, konnten sie sich an die Vorfälle nicht erinnern. Sie seien schockiert gewesen, als sie von der Polizei erfuhren, dass ihre Namen – neben drastischen Beschreibungen der Misshandlungen – angeblich in Le Scouarnecs Tagebüchern erschienen waren. Olivia Mons von der Vereinigung France Victimes sprach mit vielen der mutmaßlichen Opfer und erklärt gegenüber der BBC, dass mehrere von ihnen nur verschwommene Erinnerungen an die Ereignisse hätten, für deren Erklärung sie nie „Worte finden konnten”. Als der Fall des Chirurgen ans Licht kam, „bot er ihnen den Beginn einer Erklärung“, so Mons.

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Während sich die Stadt Vannes auf die Ausrichtung des Prozesses vorbereitet, wurden drei Hörsäle in einem ehemaligen Universitätsgebäude in der Nähe zur Verfügung gestellt, um hunderte mutmaßliche Opfer, ihre Rechtsvertreter und Familien unterzubringen. Der Prozess beginnt am 24. Februar und soll bis Juni dauern. (dbr)

Wenn es in eurem Umfeld sexuellen Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen gibt oder ihr selbst betroffen seid, findet ihr unter der Nummer 0800 – 22 55 530 oder unter www.hilfe-portal-missbrauch.de Menschen, mit denen ihr darüber sprechen könnt.