Todesfahrt in Berlin „Töten in blinder Wut!“ Wieso laufen Menschen Amok? Psychotherapeut schätzt ein

Ein Mann (29) raste am Mittwoch in Berlin in eine Gruppe aus Schülern und Lehrern, die auf Klassenfahrt in der Hauptstadt waren. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer „Amoktat.“ Laut Berliner Polizei weisen Indizien darauf hin, dass sich der Täter in einem „psychischen Ausnahmezustand“ befunden hat. Was treibt einen Menschen zu solch einer Handlung? Psychotherapeut und Trauma-Experte Dr. Christian Lüdke beschreibt im Gespräch mit RTL mögliche Hintergründe der mutmaßlichen Amokfahrt.
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Todesfahrt in Berlin: Fahrer (29) soll psychisch beeinträchtigt sein – wieso laufen Menschen Amok?
Bei seiner Tat tötete der Fahrer am Mittwochvormittag eine Lehrerin aus Hessen und verletzte insgesamt 29 Menschen, vor allem Schüler aus einer 10 Klasse. Der Fahrer wurde gefasst und in ein Krankenhaus gebracht. „Es gibt Indizien, die die Theorie eines psychischen Ausnahmezustands stützen“, sagte Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik. Doch was bedeutet das?
„Jede psychische Ausnahmesituation ist immer eine gestörte Beziehung zu Menschen – also eine Beziehungsstörung. In diesem Fall liegt eine gestörte Beziehung zu einem oder mehreren Menschen vor, die sich über einen längeren Zeitraum entwickelt hat. Letztendlich liegt auch eine gestörte Beziehung zu sich selbst vor“, erklärt Dr. Christian Lüdke im RTL-Interview.
Psychotherapeut Lüdke erklärt: Amok-Täter „töten in blinder Wut“
In solchen Fällen könnten über Jahre hinweg entwickelte ernsthafte psychische Störungen eine Rolle spielen, wie zum Beispiel eine „Impuls-Kontrollstörung“. Also eine psychiatrische Erkrankung, die sich durch impulsives Handeln bei gestörter Selbstkontrolle auszeichnet. Sie äußert sich durch ein zwanghaftes Verhalten, das vom Patienten nicht oder nur teilweise gesteuert werden kann. „Hinzu kommt eine unglaubliche Aggression“, so Lüdke.
Einer Amoktat gehe oft ein auslösendes Ereignis voraus, zum Beispiel ein Streit mit der Freundin, oder einer nahestehenden Person kurz vor der Tat, der dann das Fass zum Überlaufen gebracht habe. „Aus der Amok-Forschung weiß man, dass Menschen, die Amok fahren, im Grunde genommen ihren eigenen Selbstmord planen und inszenieren. Bevor sie aber selbst sterben, wollen sie möglichst viele Menschen töten und das Ganze mit einem relativ geringen Aufwand – mit dem Auto in eine Menschenmenge fahren, oder mit einer Waffe in einen Klassenraum gehen, das sind klassische Beispiele. Diese Menschen töten in blinder Wut. Sie geraten gefühlsmäßig in eine Vollnarkose“, schildert Lüdke. Die Fähigkeit zur Empathie sei in diesem Zustand nicht mehr möglich.
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Amok-Täter: „Wenn ich schon nicht geliebt werde, dann will ich wenigstens gehasst werden“
„Amoktaten sind geplante Handlungen und keine Kurzschlussreaktionen“, so Lüdke. Diese Menschen fühlten sich aufgrund von Erlebnissen in frühester Kindheit oft jahrelang ohnmächtig und von ihrem unmittelbaren Umfeld, zum Beispiel vom Elternhaus, nicht geliebt. Durch diese tiefen ungestillten Bedürfnisse würden sie über Jahre hinweg psychische Probleme entwickeln.
„Bei meinen Vorträgen verwende ich die Metapher ‚Arschloch-Kinder‘, um es plastisch zu erklären. Auch, wenn der Begriff sehr hart ist. Diese Kinder tauchen bereits in der dritten Klasse auf und sind unbeliebt“, so Lüdke. „Deswegen entwickeln sie schon früh ein Programm, das heißt: Wenn ich schon nicht geliebt werde, dann will ich wenigstens gehasst werden“, erklärt der Psychotherapeut. Da diese Kinder ständig Demütigung erleben würden, müssten schon in der Kindheit andere herhalten und würden deren Wut abbekommen.
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Amoktäter fühlen sich jahrelang ohnmächtig und möchten sich einmal kurz allmächtig fühlen
Menschen mit derartigem Krankheitsbild wollen laut des Experten gerne einmal im Mittelpunkt stehen.
„Aus dieser Ohnmacht wird bei Amoktätern dann der Wunsch, allmächtig zu sein und einmal Macht auszuüben. Selbst für kurze Augenblicke wollen die Täter Macht und Kontrolle über andere Menschen haben“, so der Experte. Je wehrloser die Opfer seien, desto mächtiger würde sich der Amoktäter fühlen. „Die Opfer stehen da völlig ahnungslos und ein Mensch brettert in sie hinein. Diese Handlung spiegelt Allmachtsphantasien wider“, erklärt Lüdke.
Im Video: Nachbarin beschreibt den Amokfahrer in Berlin
Amoktäter haben oft niemanden in ihrem Umfeld, der sie bedingungslos liebt
Dr. Christian Lüdke stellt seinen Patienten oft die Frage: Fühlst du dich geliebt? Wer sie bejahen könne, habe oft weniger Probleme und könnte damit durchs Leben kommen. Amoktäter würden die Frage häufig verneinen und sich dadurch im Laufe ihres Lebens psychologisch stark auffällig verhalten.
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Doch hätte man die Tat noch verhindern können? „Unmittelbar vor der Tat hätte niemand die Tat noch verhindern können“, schildert Lüdke. Auffälligkeiten müssten schon früh behandelt werden. „Solche Täter werden oft zuvor über die Sprache aggressiv und äußern sich ironisch, zynisch und sarkastisch. Solche Täter sind in der Regel schon in der Schule auffällig. Und dann muss auch spätestens eingegriffen werden, um Schlimmeres zu verhindern“, erklärt der Psychotherapeut abschließend.