Antisemitische Verschwörungstheorien im Lehrplan
RTL-Recherche deckt auf: Illegale Querdenker-Schulen machen sich in Deutschland breit
von Markus Frenzel und Torsten Misler
Wir haben einen Hinweis bekommen – im Untergrund soll sich in Deutschland ein illegales System von Querdenker-Schulen entwickelt haben. Wir versuchen tiefer in die Szene einzusteigen. Unter falschem Namen melden wir uns in verschiedenen Telegram-Gruppen an. Teilweise befinden sich an die hundert Personen in den Chats. Aus ganz Deutschland. Es ist nicht leicht, Vertrauen aufzubauen. Doch dann, nach mehreren Wochen werden wir zu einem Elternabend eingeladen.
Reporter besuchen illegale Schule auf Bauernhof
Unter den Anwesenden herrscht Euphorie. Doch eine Frau hat Zweifel: „Was, wenn die staatlichen Stellen den Wechsel der Kinder nicht erlauben?“ Es werden Tipps ausgetauscht, wie die Kinder aus der Schulpflicht herausgebrochen werden können. Erfahrenere Eltern stehen mit Rat zur Seite. Wenn es um ihre eigenen Interessen geht, setzen die Querdenker voll auf den Rechtsstaat. In der Szene wird bereits für eine Anwältin in Thüringen gesammelt. Über ein Konto in Belgien soll genug Geld zusammenkommen, um die Voraussetzungen in Deutschland zu ändern. Verwendungszweck: „Gesetzentwürfe Selbstbestimmtes Lernen“
Einige Tage nach dem virtuellen Elternabend bekommen wir eine Einladung zu einem „Vorstellungsgespräch“. Das Treffen findet auf einem Bauernhof statt, der jetzt als Schule fungiert. Durchs Fenster erschallt Kindergeschrei. Eine „Lehrerin“ führt uns durch das Haus, heute hätten sie im Wald Igelnester gebaut. In die geheime Schule auf dem Hof kämen regelmäßig gut zwanzig Kinder, zwischen sechs und vierzehn Jahren, sie werden zusammen unterrichtet. Die Organisatoren sprechen von einer „Nachhilfegruppe“, wissen aber genau, dass das nicht stimmt. Der Unterricht dauert täglich von neun bis vierzehn Uhr.
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Video: Razzia bei Querdenker-Gründer
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Mutter gibt zu: "Haben alle Bußgeldbescheid auf dem Tisch"
Einige der selbsternannten Lehrer sind Anhänger der so genannten Schetinin-Pädagogik, die auf einen russischen Musiklehrer zurückgeht. Dabei handelt es sich um eine krude Mischung aus Ökoschmonzette, esoterischem Märchen und Martial Arts. Täglich mussten die Kinder zu dessen Lebzeiten in seiner Schule im Westkaukasus nach einem brutalen Tagesablauf arbeiten und lernen. Von frühmorgens bis spätabends. Auch Kampfsport stand auf dem Lehrplan. Der russische Diktator Wladimir Putin soll ein Fan der Schetinin-Pädagogik sein.
Auch in unserer „Bauernhofschule“ im Erzgebirge seien alle Kinder vom Unterricht abgemeldet. Aber offenbar hat niemand beim Amt überprüft, wohin die Kleinen stattdessen gehen. Dass die geheime Querdenker-Schule niemals offiziell akzeptiert würde und jederzeit staatliche Strafen drohten, ist auch allen Beteiligten bewusst. „Realistisch gesehen haben wir alle unseren Bußgeldbescheid auf dem Tisch“, sagt eine Mutter. Doch das scheint sie nicht weiter zu belasten. „Ob ich eine Privatschule bezahle oder einmal im Jahr diese 200 Euro, ist mir Wurscht.“
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Experten entsetzt über illegale Querdenker-Schulen
Pädagogen macht die weitgehende Untätigkeit des Staates fassungslos. „Das ist in Deutschland schlichtweg verboten“, schimpft Ursula-Marlen Kruse, die sächsische Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. „Und zwar nicht nur für Querdenker, sondern für alle.“ Wie ein Krebsgeschwür zieht sich die illegale Schulstruktur inzwischen durchs ganze Land. Insider gehen von mehreren Dutzend der geheimen Einrichtungen aus. Ein Verein in Niedersachsen hat nach eigenen Angaben mit 700 Personen gearbeitet, viele davon mögliche, zukünftige „Lehrer“. Kontakt zu 100.000 Kindern will bereits ein anderer Vordenker der Querdenker-Szene gehabt haben.
Doch von den politisch Verantwortlichen ducken sich alle weg. Niemand will ein Interview geben – nicht die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, nicht der sächsische Kultusminister, niemand aus der Schulverwaltung. Zwei schriftliche Antworten der Schulbehörde in Chemnitz bekommen wir schließlich. „Konkrete Bestrebungen einer illegalen Schule oder gar konkrete Anträge sind nicht bekannt“, wird uns mitgeteilt, „aber einige ungenaue Hinweise zu wenigen Kindern liegen vor.“ Vieles bleibe jedoch „im Reich der Gerüchte“.
Lerngruppen und illegale Schulen gibt es seit der Pandemie überall in Deutschland
Wie real die Gerüchte sind, zeigen unserer Recherchen. Nach Monaten in der Szene steht ein erschreckender Befund: in den vergangenen Jahren hat sie eine komplette Infrastruktur entwickelt, mit eigener Lehrerschulung, Rechtsberatung, Elternabenden und speziellen Videoseminaren. Und die Szene ist hochaktiv. Das haben wir bei der Verabschiedung in der illegalen Schule im Erzgebirge erlebt. „Du solltest selbst schnell eine Lerngruppe gründen“, raunte uns eine Mutter zu. „Wir sind weniger angreifbar, je größer wir sind.“
Wie die Pilze schießen seit der Corona-Pandemie quer durchs Land Lerngruppen und Schulen aus dem Boden. In der Euphorie des Aufbruchs schaute niemand so genau hin, wer da alles zusammenkommt. Heute ist klar, es entwickelte sich ein explosives Gemisch aus Ökoaposteln, Esoterikern, Anhängern alternativer Lehren und Querdenkern, Verschwörungstheoretikern oder Reichsbürgern. „In den letzten Wochen und Monaten haben wir gesehen, dass insbesondere die Corona-Pandemie hier Brücken schlägt“, warnt Stephan Kramer, Chef des Verfassungsschutzes in Thüringen. „Man hat sich aneinander angenähert.“
Im Querdenker-Lehrplan: Gedankengut der Reichsbürgerszene
So kämen die Kinder nicht selten auch mit antisemitischen Verschwörungsfantasien, Gedankengut der Reichsbürgerszene, Widerstand gegen den Staat und die Demokratie in Kontakt. „Wenn man sich überlegt, dass hier schon die Jüngsten ins Visier genommen werden, ist ganz klar, dass das eine auf Dauer angelegte Aktion ist“, so Verfassungsschützer Kramer weiter, „um ganz gezielt junge Menschen, Kinder, Heranwachsende schon sehr früh an die Szene heranzuführen.“ Der Thüringer ist einer der wenigen, der die Entwicklungen der vergangenen Monate ernst nimmt und davor warnt. Vom ersten netten Gespräch bis zum Familienwochenende mit hartgesottenen Neonazis kann es ganz schnell gehen.
Die ganze Reportage können Sie um 00.25 Uhr am 1. Dezember im Nachtjournal-Spezial sehen.