Experte: Corona-Pandemie spielt große Rolle
Nach Gewalttaten: Was ist mit unseren Kindern los?
von Eva Johanna Onkels
Zwei Mädchen (12 und 13) töten die 12-jährige Luise aus Freudenberg. Wenige Tage später prügeln mehrere Mädchen mit einer so brachialen Gewalt auf eine Gleichaltrige ein, dass sogar gestandenen Experten der Atem stockt. Die Kriminalitätsstatistiken verschiedener Bundesländer zeigen: Die Kriminalität bei unseren Kindern nimmt zu. Warum Corona da eine Rolle spielt, erklärt Diplom-Psychologe Michael Thiel.
Kinder lernen viel in der Pubertät
Durch die Corona-Einschränkungen hätten viele Kinder in ihrer psychologischen Entwicklung einiges verpasst. „Die Isolation bedeutete für Kinder, viel online zu sein und wenig face-to-face-Kommunikation mit Gleichaltrigen.“ Doch gerade in der Pubertät sei dieser Austausch wichtig: „Kinder und Jugendliche messen sich an und mit anderen.“ So lernen sie nicht nur zu kommunizieren, sondern entwickeln unter anderem Konfliktlösungsstrategien, Selbstwertgefühl und verbessern ihre Fähigkeit zur Empathie. Gerade letztere fehle den Mädchen, die in dem Prügel-Video die 14-Jährige sogar mit Zigaretten quälen.
Cliquen werden immer wichtiger
Hätten die Eltern nicht während der Pandemie die Rolle der Gleichaltrigen einnehmen können? Das sieht Thiel völlig anders: „Gerade in der Pubertät nabeln sich die Kinder ab, die Eltern werden weniger relevant und Cliquen immer wichtiger.“ Die Kinder und Jugendlichen testen ihre Grenzen aus: „Provokation ist angesagt, auch untereinander.“ Jugendliche würden nach Anerkennung suchen, insbesondere von Gleichaltrigen. Das geschehe oft in Form von Cliquen. „Da kann dann schon mal in Form von Mutproben gefordert werden, etwas zu klauen oder eine Challenge mitzumachen“, meint der Psychologe, der das Thema auch in seinem Podcast „Psychologen beim Frühstück“ behandelt.
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Richtig problematisch werde es dann, wenn es zu einem Überbietungsprozess komme - und Gewalt nötig werde, um in der Gruppenhierarchie aufzusteigen. Ein Ausstieg aus einer Clique sei zudem für einen nach Anerkennung strebenden Jugendlichen schwer. Eine Rechtfertigung sei das nicht - aber eine Erklärung.
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Großer Nachholbedarf bei Jugendlichen
Doch wie nun damit umgehen? „Es gibt großen Nachholbedarf bei den Jugendlichen. Sie haben viel Energie und wissen nicht, wohin damit“, sagt Thiel. Die Schulen könnten das oft nicht auffangen. Diese Energie sollte in sinnvollere Bahnen gelenkt werden: „Nachsitzen angesagt - bei der Streitkultur. Denn das ist jetzt genauso wichtig, wie die binomischen Formeln.“ Wenn Thiel träumen dürfte, wünschte er sich mehr Personal an den Schulen. Sozialarbeiter, Psychologen, Streetworker, die sich zusammen um die besonders brutalen Kinder kümmern, aber auch die stillen Außenseiter. Das sei eine gesellschaftliche Aufgabe: „Wenn ein Kind nur zu einer einzigen Person eine liebevolle Verbindung aufgebaut, dann haben wir schon eine gute Vorbereitung für ein stabiles Selbstwertgefühl und damit keine Veranlassung für Mutproben oder kriminelle Handlungen.“
Und: Die Menschen sollten nicht mehr wegsehen. Das habe ihn auch bei den Prügel-Videos besonders schockiert: Erwachsene, die einfach weitergehen und nicht eingreifen. Dabei reiche es bei jugendlichen Tätern oft schon, extrem laut um Hilfe zu rufen, sich deutlich einzumischen, die Polizei zu alarmieren. Das wäre ein Zeichen von Courage und Moral - und da sehen viele Menschen aus Angst oder Gleichgültigkeit doch lieber weg.