Zinsloses Darlehen für Hartz-IV-Empfängerin abgelehnt!Statt neuem Kühlschrank – Jobcenter empfiehlt: Essen lagern auf dem Balkon

Dachgarten im Winter, Oesterreich, Wien | roof garden in winter, Austria, Vienna
Kein Platz mehr im Kühlschrank? Kein Problem: Einfach ein paar Sachen nach draußen Stellen. Aber das als Dauerlösung ganz ohne Kühlschrank?
von Kathrin Hetzel

Kurz ein paar Getränke auf dem Balkon lagern oder die Kiste Bier hinters Haus stellen - bei winterlich einstelligen Temperaturen kein Problem! Aber als Dauerlösung für alle Lebensmittel, ganz ohne Kühlschrank, ist das doch unvorstellbar, oder?! Doch genau zu dieser Lösung hat ein Jobcenter im Ruhrgebiet einer Hartz-IV-Empfängerin mit defektem Kühlschrank geraten. Statt eines zinslosen Darlehens für den dringend benötigten neuen Kühlschrank, gibt es diesen Lösungsvorschlag: Lebensmittel „aufgrund der Witterungsverhältnisse“ einfach draußen lagern.
Ein Tweet dazu ging viral, RTL ist der Sache auf die Spur gegangen: Wie reagiert das Jobcenter und ist das alles so rechtens?
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Vorfall empört das Internet

Helena Steinhaus, Gründerin des Vereins „Sanktionsfrei e.V.“, berichtet über den Fall der Antragsstellerin aus dem Ruhrgebiet, die sich hilfesuchend an den Verein gewendet hatte. Der Tweet hat mittlerweile über 13.000 Likes (Stand Donnerstagabend), viele User sind empört über die Antwort des Jobcenters: „’Draußen’ wie in ‘wir wohnen in einer Stadtwohnung ohne Balkon im 4. Stock soll ich es auf eine Parkbank legen oder was soll der Scheiß’-draußen?,“ antwortet ein Nutzer fassunglos.

RTL liegt das im Tweet zitierte Ablehungsschreiben des Jobcenters vor. Die Hartz-IV-Empfängerin bat in dem Schreiben um eine zinsloses Darlehen für den Ersatz ihres kaputten Kühlschrankes. Das Jobcenter lehnt ab: Die Voraussetzungen für eine darlehensweise Bewilligung seien in ihrem Fall nicht gegeben.

Anwältin: "Halte die Begründung nicht für tragfähig."

Als Gründe nennt das Jobcenter, dass kein „unabweisbarer Bedarf“ gedeckt werden würde beziehungsweise der Bedarf auch auf andere Weise erzielt werden könne. Die Hartz-IV-Empfängerin solle einfach Geld für einen neuen Kühlschrank sparen, während vorübergehend „aufgrund der Witterungsverhältnisse Lebensmittel auch z.B. auf dem Balkon“ gelagert werden könnten.

So absurd es klingt, ist der Ablehnungsgrund des Jobcenters wirklich rechtlich wetterfest? RTL hat die Anwältin Nicole Mutschke nach ihrer Meinung zu dem Fall gefragt: „Natürlich wird dies vermutlich am Ende ein Gericht entscheiden, aber ich halte die Begründung nicht für tragfähig.“ Die Anwältin rät dazu, einen „Antrag auf einstweilige Anordnung bei Gericht“ zu stellen: „Es dürfte völlig egal sein, ob man einen Balkon hat oder nicht, beziehungsweise wie winterlich die Verhältnisse am Tag der Entscheidung des Jobcenters oder des Gerichts vielleicht sind.“

Trotzdem hat das Jobcenter mit einer Sache recht: „Tatsächlich sagt die Agentur für Arbeit grundsätzlich, dass beim Bezug von Arbeitslosengeld II monatlich ein Teilbetrag angespart werden sollte. Klassisches Beispiel, wofür Gelder zurückgelegt werden sollen, ist bei der Agentur für Arbeit regelmäßig der Kühlschrank.“

In der Praxis sei das für Hartz-IV-Empfänger aber recht schwierig: „Da der Regelsatz nicht sehr hoch ist, sind die Möglichkeiten für Leistungsempfänger etwas zu sparen, natürlich praktisch begrenzt.“

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Jobcenter reagiert: "Selbstverständlich gehört ein Kühlschrank zur notwendigen Ausstattung einer Wohnung"

Die Anwältin hat also Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Begründung. Deshalb hat RTL das zuständige Jobcenter mit dem Fall konfrontiert. Dort reagiert man überrascht auf den Vorfall. Man könne den „geschilderten Vorgang“ nicht bestätigen.

„Die Begründung der Ablehnung entspräche in keinster Weise der gängigen Praxis im Jobcenter. Selbstverständlich gehört ein Kühlschrank zur notwendigen Ausstattung einer Wohnung,“ antwortet das Jobcenter schriftlich auf RTL-Anfrage. Trotzdem seien solche Fälle meist „individuelle Einzelfälle“, bei denen Sachbearbeiter oft auch Ermessensentscheidungen treffen müssten.

Auch auf den genannten „unabweisbaren Bedarf“ kommt das Jobcenter zu sprechen: „Ein Darlehen wird bewilligt, wenn der Bedarf unabweisbar ist. Das bedeutet, dass er nicht aufschiebbar ist, d. h. zur Vermeidung einer akuten Notsituation unvermeidlich ist. Dies trifft auf die Anschaffung eines Kühlschranks grundsätzlich zu.“

Das Jobcenter kündigt an, der Sache auf den Grund gehen – möglicherweise mit Konsequenzen für den zuständigen Sachbearbeiter. RTL hat den Kontakt zwischen Jobcenter und Antragsstellerin vermittelt. Es bleibt also zu hoffen, dass sie doch noch einen Kühlschrank kaufen kann und sie sich somit nicht darauf verlassen muss, dass die winterlichen Temperaturen zum Kühlen von Lebensmitteln noch etwas länger anhalten werden…

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