Bertelsmann-Studie zeigt deutliche Missstände

Der kleine Nico ist kein Einzelfall: Fast 400.000 Kita-Plätze werden 2023 fehlen

Familie Lehnerer und der kleine Nico suchen vergeblich nach einem Kitaplatz. Die Bertelsmann-Studie verspricht wenig Hoffnungen für das kommende Jahr.
Familie Lehnerer und der kleine Nico suchen vergeblich nach einem Kitaplatz. Die Bertelsmann-Studie verspricht wenig Hoffnungen für das kommende Jahr.
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Familie Lehnerer aus dem oberpfälzischen Schwandorf sucht seit Wochen dringend einen Kitaplatz. Die Erfolgsaussichten stehen schlecht. Der Grund: Fast überall in Deutschland fehlen die Kapazitäten. Ein Missstand, der schon länger bekannt ist.

Die Zahlen sind alarmierend

Wer momentan auf der Suche nach einem Kitaplatz für sein Kind ist, muss Geduld und vor allem Nerven mitbringen. Familie Lehnerer aus dem ostbayerischen Schwandorf und ihr kleiner Sohn Nico kennen das Problem. Weil der knapp 14 Monate alte Sprössling momentan kaum Aussichten auf einen Kita-Platz hat, jonglieren seine Eltern zwischen Elternzeit, Büro-Job und Home-Office. Keine leichte Situation, doch so wie Familie Lehnerer, geht es wohl auch abertausenden Familien in Deutschland.

Wie aus neuen Berechnungen für den bundesweiten Ländermonitor Frühkindliche Bildung hervorgeht, fehlen 2023 bundesweit voraussichtlich knapp 400.000 Plätze. Trotz massiver Ausbaumaßnahmen sind die Zahlen noch immer alarmierend.

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Ein Gesetz ist vorhanden – die Bedingungen aber nicht geschaffen

Normalerweise steht Kleinkindern ab dem 1. Geburtstag in Deutschland ein Kitaplatz zu. Da zugehörige Gesetz wurde sogar schon vor knapp zehn Jahren verabschiedet. Doch was bringt ein Gesetz, wenn dessen Entfaltungsmöglichkeiten gar nicht geschaffen wurden?

Flächendeckend fehlen auch im kommenden Jahr wieder deutlich mehr Kitaplätze. In Zahlen ausgedrückt, sind es bundesweit sogar 384.000 Betreuungsplätze, an denen es mangelt. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind enorm. Doch dazu später mehr.

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Wartelisten sind gängige Praxis - in nahezu jeder Kita

Kirsten Nagel ist Kitaleiterin in Bochum. Sie sieht den Mangel an Kitaplätzen nicht als alleiniges Problem der aktuellen Krise.
Kirsten Nagel ist Kitaleiterin in Bochum. Sie sieht den Mangel an Kitaplätzen nicht als alleiniges Problem der aktuellen Krise.
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Wer im direkten Verfahren keinen Betreuungsplatz für sein Kind bekommen hat, kennt es möglicherweise. Dann heißt die vorzeitige Lösung oftmals: Warteliste. Eine tatsächliche Lösung ist die Warteliste aber nicht. Sie gleicht häufig eher einem Aufschub, der je nach Wohnort auch schon mal bis ins Vorschulalter des Kindes andauern kann. Auch wenn bei den über Dreijährigen mit 92 Prozent die große Mehrheit eine Kita besucht.

In der Bochumer Kinderbetreuungsstätte von Kitaleiterin Kirsten Nagel ist die Situation ähnlich prekär. „Ich habe im Moment circa 100 Kinder auf der Warteliste“, sagt sie. Die Gründe hierfür sind verschieden. Verspätete Anmeldungen, Zuwanderung oder Umzüge erschweren die Suche nach einem Betreuungsplatz. Für einige Kinder auf der Warteliste wäre eine pädagogische Betreuung laut dem Gesetz sogar schon längst überfällig, denn wie Nagel erzählt sind „zehn davon sogar schon Vorschulkinder“. Insgesamt kann Kirsten Nagel im kommenden Jahr aber nur 30 freie Plätze anbieten. „Sehr frustrierend“ ist die Situation für alle Beteiligten, wie Nagel erzählt.

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Plätzemangel bei Kleinkindern

Viele Kindertagesstätten nehmen nur Kinder ab drei Jahren auf. Diese Regelung haben mittlerweile viele Kitas bundesweit eingeführt. Kaum verwunderlich, dass der Platzmangel bei den unter Dreijährigen laut Bertelsmann-Stiftung besonders hoch ist. Diese Erfahrung macht derzeit auch Familie Lehnerer und ihr gemeinsamer Sohn Nico. Die Plätze, die für unter Dreijährige in Westdeutschland fehlen, beziffern sich auf 250.000. Zum Vergleich: In Ostdeutschland (Berlin inklusive) sind es lediglich 20.700.

Derzeit muss Familie Lehnerer deshalb flexibel agieren. Nicos Großeltern sind noch berufstätig. Vanessa und Andreas Lehnerer richten ihre Jobs so aus, dass Nico ganztägig betreut werden kann. Vormittags übernimmt Vater Andreas, ab Mittag springt seine Frau Vanessa ein. Dank Homeoffice ist eine flexible Arbeitsteilung möglich. Noch. „Wenn es anders wäre, wüssten wir nicht, wie es weitergehen soll“, stellt der Wirtschaftsinformatiker klar.

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„Man geht sich aus dem Weg und versucht die Betreuung sicherzustellen“

Der Alltag der Familie ist voll durchgetaktet. Eine langfristige Lösung ist das für alle Seiten nicht. Bis zum 31. Dezember wird Nicos Betreuung nun noch in diesem Rhythmus organisiert sein. Im kommenden Jahr hoffen die beiden Eltern auf eine Tagesmutter oder die Zusage auf einen Kitaplatz. Diese Hoffnung ist verbunden mit dem Wiedereinstieg in den eigenen Job. Solange „geht man sich aus dem Weg und versucht die Betreuung sicherzustellen“, erzählt Andreas Lehnerer.

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Entspannung wohl vorerst nicht in Sicht

Bewerbungen um einen Kita-Platz für den kleinen Nico sind jährlich möglich. Seine Eltern haben sich aber schon mit dem Worst-Case-Szenario auseinandergesetzt: „Es kann ja auch durchaus sein, dass er bis fünf von uns betreut werden muss“ , sagt Vanessa Lehnerer.

Auch wenn Nico einen Platz bekäme, konnte es schlimmstenfalls ein Einjahresvertrag sein. Dann ginge das Spiel wieder von vorne los und Familie Lehnerer müsste sich erneut auf die Suche machen.

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Kita-Leiterin kritisiert Bürokratie: Vieles müsse "vereinfacht werden und schneller“

Mehr Kitas, mehr Fachpersonal und mehr Geld – dieser Problem-Dreiklang besteht allerdings schon seit vielen Jahren. Die Bochumer Kitaleiterin Kirsten Nagel sieht das Problem aber vor allem in den bürokratischen Strukturen. Dort müsse „vieles vereinfacht werden und schneller“, wenn das Kita-Problem in den kommenden Jahren nicht ausufern soll.

Stichwort: Fachkräftemangel. Auch dieses Problem ist in der Kinderbetreuung omnipräsent. Mehr Plätze würden die Betreuung nicht unbedingt verbessern, wie Nagel erklärt. „Mehr Plätze bedeuten auch mehr pädagogisches Fachpersonal.“ Die Suche nach Personal gestaltet sich momentan schwierig. Schließlich wird die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern lediglich im Anerkennungsjahr vergütet. Das bedeutet das angehende Erzieher nur im letzten Jahr des Studiums mit einer Bezahlung rechnen können. Um die Attraktivität des Jobs zu steigern, würde Kirsten Nagel eine frühere Vergütung begrüßen. Nötig wären nämlich mehr als 300.000 Fachkräfte.

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Die Ampel-Regierung plant Investitionen

Einzig in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sei laut Berechnungen der Bertelsmann-Studie kein Ausbau der Plätze notwendig. Vor allem für westdeutsche Bundesländer plant der Bund die Länder in den kommenden zwei Jahren zu unterstützen. Knapp vier Milliarden Euro sollen in den Kita-Ausbau fließen. Ob die zweijährige Finanzierung ausreichend ist, ist fraglich. Sie kann zumindest helfen, damit die Wartelisten künftig kürzer werden. Dann bekommen Familie Lehnerer und der kleine Nico vielleicht auch endlich einen Kita-Platz. (dpa, rdr)

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