Aus der Perspektive eines Einzelkindes
Kann ich meinem Kind zumuten, Einzelkind zu bleiben?

„Wie war es für dich, als Einzelkind aufzuwachsen?“
Als mir meine Freundin Sophia* (34) eines Tages diese Frage stellte, musste ich erst mal darüber nachdenken. Wie viele andere hatte sie sich immer vorgestellt, mehrere Kinder zu bekommen. Sie selbst war ja schließlich auch mit Geschwistern aufgewachsen und fand das toll. Das Gleiche wollte sie auch für ihre Kinder – bis sie schwanger wurde. Denn plötzlich war alles anders.
Bin ich egoistisch, weil ich an meine eigenen Bedürfnisse denke?
Für Sophia war die Schwangerschaft nicht einfach: starke Übelkeit, Migräne, mehrfache Aufenthalte in der Notaufnahme und viele Sorgen. Auch die Geburt war traumatisch, die ersten Monate danach über die Maßen anstrengend.
Jetzt, knapp vier Jahre später, geht es der kleinen Familie gut. Ein weiteres Kind kann sich meine Freundin derzeit nicht vorstellen, das schlechte Gewissen plagt sie trotzdem. Kann sie es ihrem Kind zumuten, Einzelkind zu bleiben? Und handelt sie egoistisch, weil sie an ihre eigenen Bedürfnisse denkt statt an die ihres Kindes?
Ein Bericht über das Leben aus der Sicht eines Einzelkindes und was Familienberaterin Ruth Marquardt Eltern rät, die sich mit diesen Fragen quälen.
Sind Einzelkinder besser im Freundschaften pflegen?
Ich bin Einzelkind. Das ist okay so, ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern und viele Freunde, die für mich wie Familie sind. Geschwister hätte ich dennoch gerne gehabt, es hat schlicht nicht geklappt.** Als meine Freundin mich fragte, wie es für mich war, als Einzelkind aufzuwachsen, dachte ich viel über meine Kindheit nach und sprach mit meiner Mutter darüber. Hatte sie bei der Erziehung irgendetwas anders gemacht, weil ich keine Geschwister habe?
Das Erste, was mir einfiel: Ich hatte schon immer viele Freunde – und zwar von klein auf. In der Krabbelgruppe, im Kindergarten, in der Schule, auf der Uni oder bei der Arbeit. Meine Mutter hat darauf geachtet, dass ich soziale Kontakte habe. „Bei uns war immer Tag der offenen Tür“, erinnert sie sich heute. Die meisten Freundschaften halten schon seit Jahrzehnten. Meine persönliche Theorie: Einzelkinder sind oft besser darin, Freundschaften zu pflegen – einfach, weil sie es „müssen“.
Familienberaterin und Buchautorin Ruth Marquardt sieht das etwas anders: „Kinder müssen keine Freundschaften haben, sie knüpfen aber blitzschnell Freundschaften. Auf jedem Spielplatz lässt sich das beobachten. Sie wollen Kontakt. Das ist unsere menschliche Natur“, erklärt sie mir im Gespräch.
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Allein unter Erwachsenen
Für mich war als Kind trotzdem an Tag eins jedes Familienurlaubs klar: Ich halte sofort Ausschau nach anderen Kindern, mit denen ich mich anfreunde. Klappte das nicht sofort, war das ein erster Downer, denn die Alternative war, immer nur mit Erwachsenen zusammen zu sein. Wobei man auch das als Einzelkind recht gut beherrscht. Viel zu oft war ich das einzige Kind unter mehreren Erwachsenen, lauschte beim Abendessen tiefgründigen Gesprächen, malte oder versuchte, Bierdeckel mit der Hand aufzufangen.
Einzelkinder sind möglicherweise besser in der Lage, sich allein zu beschäftigen, sagt auch Marquardt. Gleichzeitig seien sie oft hervorragende Teamplayer, haben gern das Team und das Wohl aller im Blick.
Wie wäre mein Bruder oder meine Schwester wohl?
Hin und wieder hätte man sich bei Urlauben dennoch einen Bruder oder eine Schwester gewünscht, mit denen man nicht allein gewesen wäre. Genauso bei Familienfeiern. Abgesehen von solchen Situationen habe ich Geschwister als Kind aber nicht sonderlich vermisst. Heute sehe ich das anders, gerne wüsste ich, wie ein Bruder oder eine Schwester so wären. Würden wir uns verstehen? Wie würden sie aussehen? Und wie ist eigentlich die Bindung zu Geschwistern im Gegensatz zu jener, die man zu Freunden hat? Ein Gefühl, das ich niemals kennenlernen werde.
Andererseits gibt es auch keine Garantie dafür, wie gut sich Geschwister verstehen. Von tiefer Verbundenheit über anscheinende Gleichgültigkeit bis zu abgrundtiefem Hass scheint mir hier alles möglich zu sein. Vor allem, sobald das Thema Erbe dazukommt, sprechen einige Geschwister gar nicht mehr miteinander.
Im Alter allein?
Eine Garantie, im Alter nicht allein zu sein, hat man also auch mit Geschwistern nicht. Das ist übrigens meiner Erfahrung nach eine große Angst vieler Einzelkinder. Ich fände es darum auch schön, selbst eine Familie zu gründen – gerne mit mehreren Kindern. Allerdings nicht, weil ich glaube, dass man es seinem Kind nicht zumuten kann, Einzelkind zu bleiben. Denn ob das Leben eines Kindes schön wird, hängt ganz sicher nicht davon ab, ob es Geschwister hat – oder eben nicht.
„Jedes Kind, das fühlt: Ich werde von meinen Eltern geliebt, erhält alles, was es braucht“
Das sieht übrigens auch Ruth Marquardt so: „Jedes Kind, das fühlt: Ich werde von meinen Eltern geliebt, erhält alles, was es braucht. Das ist das Wichtigste. Alles andere sind Add-ons“, sagt die Familienberaterin.
„Geschwister sind toll, und sie sind auch nervig. Und sollten sie wirklich fehlen, können sie in Form von Freunden, Cousinen oder Cousins ausgeglichen werden.“ Soziale Vielfalt, andere Familien kennenlernen, unterschiedliche Haushalte erleben - all das bereichere Kinder in ihrer Entwicklung.
Entscheidend für einen sicheren Stand im Leben eines Kindes sei aber vor allem die bedingungslose Liebe der direkten Bezugspersonen sowie der sichere Stand der Eltern im Leben. Erst im zweiten Schritt seien dann Gleichaltrige wichtig für die Entwicklung von sozialem Miteinander. Darunter fallen auch Fähigkeiten wie Streiten, Teilen, sich doof und toll zugleich finden und vieles mehr, so Marquardt weiter.
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Entwickeln sich Einzelkinder anders als Geschwisterkinder?
Übrigens: Auch unabhängige Studien zeigen, dass sich Einzelkinder keineswegs schlechter entwickeln als Geschwisterkinder, weiß die Familienberaterin. „Im Gegenteil - gerade in Bereichen wie Selbstbewusstsein oder soziale Entwicklung scheinen sie ganz leicht die Nase vorn zu haben.“ Und das sind doch gar nicht mal so schlechte Aussichten.
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Sollten Eltern von Einzelkindern die fehlenden Geschwister kompensieren?
Kompensieren, dass ihre Kinder ohne Geschwister aufwachsen, müssen Eltern von Einzelkindern nicht, sagt Marquardt. „Aufrichtige Liebe ist ausreichend. Liebe ohne schlechtes Gewissen. Das Kind lieben, es sehen, wie es ist, das Kind in seiner Entwicklung fördern und auf Bedürfnisse eingehen.“
Weitere Kinder zu bekommen, nur weil das möglicherweise schön für das Kind wäre, gehöre aber nicht zu diesen Bedürfnissen. „Kinder wünschen sich Geschwister, wenn sie keine haben, und sie wünschen sich, sie hätten keine, wenn sie welche haben. Die Launen und Emotionen von Kindern ändern sich blitzschnell. Und das ist wunderbar“, erklärt Marquardt.
Die Aufgabe eines Elternteils sei es jedoch, eine klare Maßgabe, eine deutliche Orientierung vorzugeben. „Wenn ich ausstrahle - so ist es bei uns. Wir sind zu dritt und wir sind glücklich - dann wird euch euer Kind in eurer klaren Haltung folgen, ohne dass ihr mit ihm darüber sprechen müsst.“
Bin ich egoistisch, wenn ich keine weiteren Kinder möchte?
Bleibt die Frage, ob man egoistisch ist, wenn man sich gegen weitere Kinder und für die eigenen Bedürfnisse entscheidet. Marquardt lehnt das klar ab. „Meiner Erfahrung nach sind vor allem Eltern, die ihre eigenen Bedürfnisse kennen und erfüllen, gute Vorbilder. Kindern lernen am Modell.“
Wollen wir also selbstbewusste Kinder und standfeste junge Erwachsene ins Leben begleiten, zeigen wir ihnen durch unser Tun, wie Leben geht, erklärt die Familienberaterin. „Wir können noch so viel reden – am Ende messen uns unsere Kinder an unseren Handlungen.“
Konkret zähle dabei: Bin ich präsent? Nehme ich mir Zeit? Bin ich verlässlich? Und bin ich wirklich im Kontakt oder mehr mit Handy oder Laptop beschäftigt?
„Wenn ich selbstbewusst meinen eigenen Bedürfnissen folge, mitfühlend mit meinem Kind und meinem Partner agiere, das Wohl aller im Blick habe, bei all dem nicht zu perfekt bin, dann ist das mehr, als die meisten Kinder erleben.“ Und da spielt dann auch keine Rolle, ob man mit Geschwistern oder ohne aufwächst.
* Name von der Redaktion geändert.
** Uns ist bewusst, dass es viele Menschen gibt, deren Kinderwunsch unerfüllt bleibt und die glücklich darüber wären, auch nur ein Kind zu bekommen. Dieser Text richtet sich nicht an diese Menschen, sondern an Eltern, die sich bewusst dafür entscheiden, nur ein Kind zu bekommen.
Dieser Artikel erschien erstmals im April 2023 auf RTL.de.