"Die stärkste Waffe der Täter: Das Schweigen der Opfer"
19 Jahre vom eigenen Ehemann verprügelt: Wie sich Hiam aus der häuslichen Gewalt befreit hat

„Ich wollte nicht, dass meine Kinder ohne Vater aufwachsen“, erinnert sich Hiam Stülten schmerzhaft. Noch immer fällt es der 44-Jährigen schwer, über ihr damaliges Leben zu sprechen. Fast 19 Jahre lang lebt sie mit einem Mann zusammen, der sie schlägt und demütigt - so sagt sie. Von all dem bekommt ihr Umfeld lange Zeit nichts mit. Dann schafft sie endlich den Absprung.
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Der grausame Anfang
„Er war ein Traummann. Gut aussehend. Ganz freundlich. Aufmerksam und total lieb“, erzählt Hiam Stülten über die ersten Tage ihres Kennenlernens. Kurz nach der Hochzeit ändert sich das. Ihr Mann wird nach einem Streit das erste Mal handgreiflich, entschuldigt sich, aber führt sie fort. „Ich Dummerchen habe das geglaubt und habe gedacht: Das ist endlich ein Mann, der mich wirklich liebt, und mein Gott ist der eifersüchtig. Wenn er mich nicht lieben würde, wäre er nicht eifersüchtig", schildert die Niedersächsin. Es ist der Anfang einer jahrelangen Odyssee.
Das Versteckspiel und die Scham
Hiam verändert sich. Sie geht nicht mehr aus, bekommt nur noch selten Besuch. Sie entfernt sich immer mehr von ihrem Umfeld. Obwohl es ihr psychisch immer schlechter geht, bleibt die Mutter viele Jahre bei ihrem Mann und glaubt ohne ihn sei sie nichts wert. „Ich konnte das gut spielen. Also ich glaube, wenn man in eine solche Situation kommt. Und ich habe mich geschämt. Ich glaube dieser psychische Druck war viel, viel schlimmer als das Körperliche", sagt sie. Die Kinder bekommen zunächst nicht alles mit, denn auch vor ihnen versteckt die Mutter vieles. „Vor allem wegen meiner Töchter, damit sie nicht das Gefühl haben, der Mann hat das Sagen und die Frau muss alles tun", erzählt sie.
24.000 Fälle von Gewalt an Frauen in Niedersachsen
Nicht nur Hiam kämpft mit sich. Das sei ein klassisches Verhaltensmuster, sagt Helen Wienands vom Weissen Ring. „Wir beobachten immer wieder, dass die Täter die Frauen am Anfang mit Liebe überschütten, ihnen auch ein gutes Gefühl geben und dann relativ schnell dazu übergehen, sie zu isolieren, von Familie, von Freunden in ihrem Beruf zu isolieren, um möglichst viel Einfluss zu haben", erzählt die Leiterin der Außenstelle in Göttingen. Allein im letzten Jahr wurden 24.000 Fälle von häuslicher Gewalt bei der Polizei in Niedersachsen registriert.
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Terre des Femmes beklagt Bedingungen
Gerade während der Corona-Pandemie war es wohl für viele dieser Frauen besonders schwer einen Ausweg zu finden. „Neben den wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie, waren auch Ausgangsbeschränkungen, Stress, Isolation und fehlende soziale Kontakte hauptursächlich für die Zunahme von häuslicher Gewalt. Gleichzeitig gab es für von Gewalt betroffene Frauen kaum Zufluchtsorte. Frauenhäuser waren überfüllt oder durften wegen der Abstandsregeln keine Frauen mehr aufnehmen", beklagt Yasmin Lourghi von der Frauenorganistation Terre des Femmes.
Frauen würden vor männlicher Gewalt nicht ausreichend geschützt. Manchmal endet häusliche Gewalt sogar tödlich. Auf das Jahr gerechnet wird in Deutschland fast jeden Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht.
Der Absprung aus der Gewaltspirale
„Es ist eben tatsächlich leider so, dass die stärkste Waffe der Täter das Schweigen der Opfer ist“, sagt Helen Wienands vom Weissen Ring. Aber Hiam hat es ausgerechnet mit Hilfe ihres Sohnes geschafft, das Schweigen zu brechen. Der damals 14-jährige stellt sie vor die Wahl: „Wenn er zurückkommt, dann bin ich weg. Weil ich schau da nicht mehr hin“, soll er gesagt haben, erinnert sich Hiam. „Da kam es zu so einem Punkt, wo ich entscheiden musste. Entweder mein Sohn oder mein Ex-Mann. Da habe ich gesagt: Das reicht", erzählt sie.
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Hiam gründet eine Selbsthilfegruppe

Seit Hiams Befreiungsschlag sind mittlerweile sieben Jahre vergangen. Angezeigt hat sie ihren Ex-Mann nicht. Sie findet neue Kraft und gründet die Selbsthilfegruppe: „Aus der Gewalt ins Leben“, die sich jeden Donnerstag trifft. „Mein Leben ist im Augenblick kunterbunt. Trotzdem geht ein schwarzer Faden durch meinen Alltag. Der schwarze Faden symbolisiert Erinnerungen an schwarze Zeiten – an die Ehe mit meinem ersten Mann", sagt sie und schaut trotzdem positiv nach vorn. Mittlerweile lebt sie in einer neuen Partnerschaft und hat ihr Glück gefunden.
Hier finden Sie Hilfe
Sollten Sie selbst von Gewalt betroffen sein, Sie kennen jemanden der es ist oder vermuten es, dann wenden Sie sich an die unterstehenden Hilfsangebote:
Bei akuter Gefahr:
110
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“:
08000 116 016
Frauenhäuser / Frauenberatungsstellen:
http://www.frauenhauskoordinierung.de/
Telefonseelsorge:
0800 111 0111 oder 0800 111 0222