Die Arche schlägt Alarm

Arche-Sprecher: „In den nächsten Wochen werden die ersten Familien hungern“

von Nina Lammers und Arne Draheim

Panikmache oder eine ernstzunehmende Warnung? Laut dem Kinder- und Jugendwerk Arche werden sozial benachteiligte Kinder In Deutschland bald hungern müssen. Was ist dran an der Warnung und wie kann gegen das Problem vorgegangen werden?

Immer mehr Menschen sind auf Lebensmittelspenden angewiesen

Wolfgang Bücher und RTL-Reporterin Nina Lammers
Wolfgang Büscher, Sprecher des Berliner Kinder- und Jugendwerks Arche
RTL

Die Preise in den Supermärkten steigen von Monat zu Monat. Grundnahrungsmittel entwickeln sich besonders für sozial benachteiligte Familien zunehmend von einer Notwendigkeit zum Luxusgut. Wer satt wird, dem geht es gut – noch. Immer mehr Menschen in Deutschland sind auf Lebensmittelspenden angewiesen.

Lese-Tipp: Kinderschutzbund warnt vor Anstieg der Kinderarmut

Das zeigt sich nicht zuletzt beim Andrang in sozialen Einrichtungen, wie Arche-Sprecher Wolfgang Büscher feststellt. Nun rückt das Weihnachtsfest näher und die Situation wird drastischer: „Ich habe so etwas in den 20 Jahren noch nie erlebt und ich bin mir sicher, dass in den nächsten Wochen die ersten Familien hungern werden“, prophezeit er. Mit steigenden Lebensmittelpreisen steigt die Zahl derer, die darunter leiden müssen. Vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien werden häufig übersehen.

Lese-Tipp: Schadet eine vegetarische Ernährung Kindern? Große Veggie-Studie liefert neue Erkenntnisse

Eltern hungern, damit ihre Kinder essen können

Von solchen Erfahrungen kann Wolfgang Büscher zu Hauf berichten. Besonders alleinerziehende Mütter und ihre Kinder sind oft armutsgefährdet:„Wir haben viele Mütter in unseren Einrichtungen, die zum Mittag nichts mehr essen, damit die Kinder abends etwas zu Essen haben.“ Allerdings prognostiziert Büscher, dass auch viele Familien bald in eine solche Situation abrutschen könnten: „Die Familien sind wirklich im Moment so an ihre Belastungsgrenze gekommen, dass wir davon ausgehen, dass sie bald hungern werden.“

Lese-Tipp: Milliarden gegen den Hunger: G7 werden Milliarden für Ernährungssicherheit stellen

Was im ersten Moment vielleicht nach Panikmache oder Horrorszenario klingen mag, könnte allerdings schon in den kommenden Wochen zur Realität werden. Deshalb steuert die Arche schon jetzt mit Maßnahmen dagegen. „Vor Weihnachten werden Kinder von der Arche mit Lebensmittelspenden unterstützt, damit sie sich in den nächsten Tagen wirklich auch mal satt essen können“, wie Büscher erzählt. Dass Menschen „in einem solch reichen Land wie Deutschland“ hungern müssten, entsetzt ihn.

Lese-Tipp: Abwegig oder notwendig? Preisdeckel für Lebensmittel gefordert

Anzeige:
Empfehlungen unserer Partner

Hartz-IV-Regelsatz sieht „drei bis vier Euro“ an einem Tag pro Kind vor

ARCHIV - 26.04.2018, Berlin: Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands gibt eine Pressekonferenz zur Neuausrichtung der Grundsicherung für Arbeitslose sowie zur Bemessung und Höhe der Regelsätze bei Hartz IV. (Zu dpa "Verband: Das Soziale bei der sozialen Marktwirtschaft hat ausgedient") Foto: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Ulrich Schneider, Geschäftsführer des paritätischen Gesamtverbandes
ped htf wst, dpa, Britta Pedersen

Die Lebensmittelpreise sind in den vergangenen Monaten um circa 20 Prozent gestiegen. Parallel dazu wächst auch die Anzahl der Kinder, die in Armut aufwachsen. Dieses Phänomen beobachtet Ulrich Schneider vom paritätischen Gesamtverband schon länger: „Es ist in Deutschland so, dass wir noch nie so viele Kinder in Armut hatten wie heute. Jedes fünfte Kind in Deutschland muss derzeit zu den Armen gezählt werden.“ Tendenz steigend.

Lese-Tipp: Welthungerhilfe: Exportstopps von Nahrungsmitteln treiben Hunger

Doch noch deutlich erschreckender ist das Finanzvolumen, dass knapp 1,5 Millionen Kindern, die in Hartz-IV leben, für die Tagesgrundversorgung zur Verfügung steht. „In diesem Regelsatz sind für Kinder für die gesamte Ernährung an einem Tag zwischen drei und vier Euro vorgesehen. Mehr nicht“, rechnet Ulrich Schneider vor. „Obwohl wir in Deutschland das viertreichste Land auf dieser Welt sind.“

Lese-Tipp: Kinderschutzbund warnt vor Anstieg der Kinderarmut

Lebensmittelarmut fördert Fehlernährung

Doch Reichtum schützt die Bundesrepublik vor Lebensmittelarmut nicht, wie Ulrich Schneider vom paritätischen Gesamtverband feststellt. „Wir haben insofern eine Lebensmittelarmut, als dass die Menschen aus dem, was ihnen durch Hartz IV zur Verfügung gestellt wird, sich schlicht nicht mehr ernähren können.“ In vielen Fällen greifen Betroffene dann zu günstigen Lebensmitteln, die schlussendlich zu einer Fehlernährung führen können. „Das heißt, es werden Lebensmittel gegessen, die schnell satt machen. Nudeln, einfach Zuckerhaltiges, also alles das, was kurz und schnell satt macht“, so Schneider.

Lese-Tipp: Mehr Kinderarmut befürchtet - Scholz kündigt Schritte an

Allerdings ist das keine nachhaltige, gesunde Ernährung, wie sie besonders im jungen Kindesalter von Ernährungsexperten empfohlen wird. Die wäre aber ohnehin „mit diesen wenigen Euro im Regelsatz nicht hinzubekommen“, wie der Chef vom Paritätischen Wohlfahrtsverband sagt. Die Folgen dieser Fehlernährung sind letztlich noch weit über die Kindheit hinaus zu spüren. Ein gestörter Energiekreislauf, Sehstörungen oder Muskelschwäche – um nur einen Teil der Langzeitfolgen zu nennen.

Lese-Tipp: Einfache Alltagstipps: So starten Sie mit einer gesünderen Ernährung

Armut wird besonders zu Weihnachten spürbar

Geschenke, außergewöhnliches Essen und Weihnachtsmarktbesuche – nicht für jede Familie ist die Weihnachtszeit auch tatsächlich die schönste Zeit des Jahres. „Was für die einen ein Fest der Freude sein soll und eine Zeit der Freude ist, ist für andere, vor allem arme Menschen mit kleinen Kindern, einfach nur ein Horrormonat.“, verdeutlicht Schneider. Denn an Weihnachten wird Armut zumeist für alle Beteiligten spürbar. Bei den Geschenken, beim Essen oder eben beim Weihnachtsmarktbesuch.

Lese-Tipp: Forscher aus Illinois besorgt: Kann glutenfreie Ernährung die Entstehung von Krebs begünstigen?

Der Blick richtet sich auf die Bundesregierung, die erst kürzlich das Bürgergeld verabschiedet hat. Allerdings wird das wenig an der Situation ändern, befürchten Büscher und Schneider. Zwar erhöht sich der Regelsatz um knapp elf Prozent, doch insbesondere für Familien, die am Existenzminimum leben, ist es lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein. Schließlich sind die Lebensmittelpreise um knapp 20 Prozent gestiegen. Diese Rechnung geht nicht auf, wie Ulrich Schneider betont: „Die Menschen bekommen nicht mal den notwendigen Inflationsausgleich. Und deswegen wird dieses Bürgergeld zum 1. Januar, in dieser wirklich schlimmen Situation für Menschen in Armut, nichts Wesentliches ändern.“ Sein Alternativ-Vorschlag: „Die Regelsätze beim sogenannten Bürgergeld dürften nicht auf 502 Euro angehoben werden, wie es jetzt geplant ist, sondern sie müssten tatsächlich nach unseren Berechnungen 725 Euro betragen.“ Damit könnte die Armut „bekämpft“ werden, wie der Geschäftsführer des Wohlfahrtsverbandes sagt. Denn nur wenn die Armut tatsächlich bekämpft werden kann, müssen Familien zum Weihnachtsfest nicht um ihre Existenz bangen.

Lese-Tipp: Wie die Ernährung Akne beeinflussen kann

Politik & Wirtschaftsnews, Service und Interviews finden Sie hier in der Videoplaylist

Playlist 50 Videos

Spannende Dokus und mehr

Sie lieben spannende Dokumentationen und Hintergrund-Reportagen? Dann sind Sie bei RTL+ genau richtig: Sehen Sie die Geschichte von Alexej Nawalny vom Giftanschlag bis zur Verhaftung in „Nawalny“.

Außerdem finden Sie Dokus zu Politikern wie die persönlichen Einblicke zu Jens Spahn oder zur aktuellen politischen Lage: „Klima-Rekorde – Ist Deutschland noch zu retten?“

Spannende Dokus auch aus der Wirtschaft: Jede sechste Online-Bestellung wird wieder zurückgeschickt – „Retouren-Wahnsinn – Die dunkle Seite des Online-Handels“ schaut hinter die Kulissen des Shopping-Booms im Internet.