Tag 11 im Halle-Prozess - Wenn ein normaler Tag zum Albtraum wird

Zeugen aus dem Dönerimbiss: „Raus hier, der erschießt uns alle!“

09.09.2020, Sachsen-Anhalt, Magdeburg: Der angeklagte Stephan Balliet sitzt zu Beginn des elften Prozesstages im Landgericht. Die Bundesanwaltschaft wirft dem Attentäter von Halle 13 Straftaten vor, unter anderem Mord und versuchten Mord. Der Attentäter hatte am 09. Oktober 2019 am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht, in der Synagoge in Halle ein Blutbad anzurichten. Foto: Ronny Hartmann/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Stephan B. an Tag 11 des Prozesses auf der Anklagebank
sab, dpa, Ronny Hartmann

Am Mittwoch wurden im Prozess zum Halle-Attentat erstmals Zeugen von vor und in dem Dönerimbiss, in dem ein junger Mann erschossen wurde, gehört. Es ist ein Eintauchen in einen normalen Tag der Menschen, der sich zu einem Albtraum entwickelte. RTL-Reporterin Luisa Graf berichtet aus dem Gerichtssaal über die Zeugenaussagen am elften Prozesstag.

Rentnerin begegnet dem Attentäter auf dem Fußweg

Die 78-jährige Rentnerin Margit W. hat einen Arztbesuch, ist zu Fuß unterwegs, will nach der Untersuchung die verschriebenen Medikamente in der Apotheke holen. Es ist ein normaler Tag, der sich schlagartig verändert, obwohl die Zeugen, die am Mittwoch angehört werden, das erst viel später realisieren.

Margit W. begegnet Attentäter Stephan B. auf dem Fußweg neben dem Dönerimbiss, in dem Stephan B. kurz darauf um sich schießt und den 20-jährigen Kevin S. tötet. Nur drei Meter liegen zwischen ihr und dem Täter, der zu diesem Zeitpunkt schon ein Menschenleben auf dem Gewissen hat. „Er hatte ein ganz glattes Gesicht, ohne Tätowierungen, ohne Pickel, ohne Bart.“ Stephan B., so beschreibt es die Zeugin, hielt ein Rohr in der Hand. Plötzlich schießt etwas aus dem Rohr heraus, irgendetwas trifft sie am Fuß. Sie spürt einen heftigen Schmerz. Dann ist die Begegnung schon vorbei. „Ich dachte, der will jemanden erschrecken.“

Wenn die Realität das Bewusstsein erreicht

Sie läuft weiter und hört Schüsse. Da kommt das ungute Gefühl. Sie traut sich nicht, sich umzudrehen. Was, wenn der Mann ihr hinterher kommt, wenn er sie verfolgt? „Warum ruft denn niemand die Polizei?“ fragt sie sich. An der Apotheke angekommen stehen Arzthelferinnen aus der benachbarten Praxis vor der Tür. Sie unterhalten sich und beschließen zuzuschließen.

„Das ist der zweite Tote“, sagt eine von ihnen und da realisiert Margit W., dass sie nur ganz knapp mit dem Leben davongekommen ist. „Er hat nichts gesagt, ich hab nichts gesagt und das war sicherlich mein Glück, sonst wäre es mir gegangen, wie der 40-jährigen Frau.“ Damit meint sie Jana L., das erste Todesopfer von Stephan B.s rassistisch und antisemitisch motivierter Tat.

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Nägel in den Schuhen

Margit W. bemerkt, dass in ihrem Schuh Nägel stecken. Einer hat ein Loch in den Schuh gebohrt und ihren Zeh getroffen. Von dort kamen die Schmerzen. Als sie zu Hause ankommt und ihrem Mann erzählt, was sie gerade erlebt hat, begreift sie: „Das war mein zweiter Geburtstag.“ Von einem Rettungswagen wird sie abgeholt.

Nach 1,5 Stunden des Wartens, weil die Sanitäter nicht losfahren dürfen, weil niemand weiß, wo sich der Attentäter befindet, wird sie im Krankenhaus behandelt. Die Verletzung am Fuß ist nicht schwer. Aber das Geschehene beschäftigt sie. Das ist spätestens daran zu merken, als ihr im Zeugenstand die Stimme bricht.

Der Schuss in die Scheibe

ARCHIV - 13.10.2019, Sachsen-Anhalt, Halle (Saale): Blumen und Kerzen erinnern vor dem Kiez Döner an die Opfer eines rechtsextremen Anschlags. (zu dpa «Nach Anschlag in Halle: Zeichen der Anteilnahme werden archiviert») Foto: Hendrik Schmidt/zb/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Zeichen der Anteilnahme vor dem "Kiez-Döner" in Halle/Saale
hsc kde dna, dpa, Hendrik Schmidt

Professor Bernd H., 74, ist beruflich in Halle unterwegs. Er ist zwar im Ruhestand, arbeitet aber trotzdem noch an universitären Projekten mit. Vor einem langen Konferenztag will er Mittagessen. Sein Blick fällt auf den „Kiezdöner“. Er parkt davor, geht rein, bestellt und setzt sich. Zwei Maler betreten ebenfalls den Imbiss - einer der beiden wird Prof. Dr. Bernd H. später den entscheidenden Hinweis zur Flucht geben.

Plötzlich dringt von draußen ein Knall in den Gastraum. „Welcher Idiot zündet denn jetzt einen Polen-Böller an?“ denkt Prof. Dr. Bernd H. noch. Dann zerspringt die Scheibe. Der Professor sieht das zersplitternde Glas. Dann betritt ein Mann den Imbiss. Die Militärkleidung hält der Zeuge für ein Kostüm, die Waffe für ein Paintball Gewehr. Den Zusammenhang zwischen dem Schuss, der die Scheibe zum Zerbersten brachte und dem Mann mit der Waffe, zieht er nicht. So unwirklich war die Situation für ihn.

„Raus hier, der erschießt uns alle!“

Prof. Dr. Bernd H. sitzt immer noch auf seinem Platz. Plötzlich ruft einer der Maler: „Raus hier, der erschießt uns alle!“ Dem Maler ist Prof. Dr. Bernd H. bis heute „zutiefst dankbar, weil er mich aus meiner staunenden Unfassbarkeit holte.“ Er begreift, dass der Attentäter eine reale Gefahr ist. Auf der Suche nach einem Fluchtweg im hinteren Teil des Imbisses öffnet dieser Maler Türen und wischt das Fensterbrett frei, er springt in den Hof. Der Professor tut es ihm gleich, zieht sich dabei allerdings Prellungen zu. Im Hintergrund hört er Flehen und Betteln: „Bitte nicht schießen!“

Erst viel später erfährt er, dass Stephan B. einen der beiden Maler aus dem „Kiezdöner“ erschossen hat. Seine Prellungen heilen. Seine Angst bleibt lange. Geräusche aus dem Hintergrund, lautes Knallen erträgt er nicht, machen ihn sogar aggressiv. Mehrere Wochen bleibt Prof. Dr. Bernd H. im Bett. Die Ruhe hilft.

Stephan B.s zweite Kamera

Stephan B. streamte seine Tat live im Internet. Dafür befestigte er sein Smartphone an seinem Helm. Er hatte allerdings auch eine zweite Kamera bei sich, befestigt an seiner Jacke. Dieses Video wird im Gerichtssaal am Mittwoch gezeigt. Nicht alle der wenigen Nebenkläger, die am elften Prozesstag da sind, kommen nach der Pause wieder rein, viele warten, bis das Video zu Ende vorgeführt ist. Christina Feist, eine Synagogenbesucherin, verlässt zwischendurch den Saal, sichtlich bestürzt.

Auf dem Video ist weit weniger zu sehen, als auf dem Video des Livestreams, weil Stephan B. die Jacke, samt Kamera, nach den ersten Schüssen im Dönerimbiss ins Auto schmeißt. Die Musik, die den Livestream untermalen soll, ist zu hören, von weitem auch Schüsse und Explosionsgeräusche. Zu sehen ist in dieser Zeit zum Glück nichts.

Den Bericht vom zehnten Prozesstag lesen Sie hier.

Todeskampf und Schreie

Das, was vorher zu sehen war, reicht aber aus, um die Prozessbeteiligten und Zuschauer zu bestürzen. Der erste Schuss auf Kevin S. ist zu sehen. Dazwischen sein Flehen und Schreien, das vorher schon der Zeuge beschrieben hat. In Worte zu fassen, was die Qualen des 20-Jährigen in mir auslösen, als das Video abgespielt wird, ist schier unmöglich. Danach trösten sich die Prozessbeteiligten gegenseitig, nehmen sich in den Arm.

Verletzter Stephan B.

Irgendwann, als Stephan B. mit dem Auto flieht, zeigt die Kamera auch wieder ein Bild. Ihn, blutend am Hals, schwitzend, in schlechtem Englisch seine Taten kommentierend. Die Verletzung stammt vom Schusswechsel von vor dem Dönerimbiss. Dort wurde er von einer Polizeikugel verletzt.

Genau diese Szene soll in der kommenden Woche im Gerichtssaal thematisiert werden. Einige Beamte, die sich Stephan B. vor dem Dönerimbiss entgegengestellt haben, treten als Nebenkläger auf.

Hohe Erwartungen an größten Staatsschutzprozess

Was auch am Mittwoch wieder klar wird, die Erwartungen an den größten Staatsschutzprozess des Jahres in Deutschland sind groß. Und so kommt mir am Ende des Verhandlungstages die Begründung des Zeugen, Prof. Dr. Bernd H., für seine Entscheidung als Nebenkläger aufzutreten, wieder in den Sinn: „Ich möchte, dass der Gesellschaft am Ende des Verfahrens klargemacht wird, dass hier ein zutiefst verabscheuungswürdiges Verbrechen vorliegt. Und leider Gottes dieses Verbrechen aus der etwas schlafmützigen Mitte der Gesellschaft heraus begangen wurde.“