Angeklagter raste in Neumünster in Fußgängergruppe

Sie wollen den Toten ein Gesicht geben: Angehörige erinnern beim Prozess mit Fotos an die Unfallopfer

Die Angehörigen stellen Fotos der Opfer vor den Gerichtssaal. Sie wollen den Toten ein Gesicht geben.
Die Angehörigen stellen Fotos der Opfer vor den Gerichtssaal. Sie wollen den Toten ein Gesicht geben.
RTL Nord
von Nicole Ide und Thomas Jell

Ein 34-Jähriger, seine Lebensgefährtin und ihre Schwester sterben, nachdem Henrik B. mit seinem Auto in die Fußgängergruppe rast. Für die Hinterbliebenen sind die Verhandlungstage am Landgericht Kiel schwer, doch das erwartete Ende des Prozesses kommt nun doch später.

Trauer und Wut bei den Angehörigen

Seit dem 20. Januar 2021 ist das Leben einer Familie aus Neumünster von Trauer und Wut geprägt. Ihre Liebsten kommen durch einem Unfall Anfang 2021 ums Leben. Ein 34-Jähriger mit seiner 30-jährigen Lebensgefährtin (beide Polizisten) sterben noch an der Unfallstelle. Die Schwester der Lebensgefährtin stirbt kurz danach. Für die Hinterbliebenen ein Trauma und jeder Prozesstag eine Tortur. Eigentlich hätte am Freitag (11.11.2022) schon das Urteil fallen können, aber die geplanten Plädoyers der Verteidigung und des Nebenklagevertreters sind nicht vorbereitet und müssen verschoben werden. Der schon Prozessauftakt musste damals verschoben werden, weil sich der Angeklagte mit Kokain prozessunfähig gemacht hatte.

Bilder der Opfer dürfen nicht stehen bleiben

Für die Plädoyers und das Urteil wird im Prozess nach einem Fortsetzungstermin gesucht. Als der Richter den 6. Dezember vorschlägt, antwortet der Vater der getöteten Schwestern: "Das ist nicht Ihr Ernst. Das ist der Geburtstag unserer Tochter. Bitte nehmen Sie einen anderen Tag." Um den Toten ein Gesicht zu geben, stellen die Angehörigen vor dem Prozess Bilder der Opfer vor dem Gerichtssaal auf. Zwar äußert der Richter Verständnis, aber die Bilder müssen wieder abgebaut werden, denn Fotos stehen der Neutralitätspflicht des Gerichts entgegen. Beim Prozessstart erzählte Witwer Marvin, wie die tiefe Trauer über den Unfall wieder hochkommt.

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War es fahrlässige Tötung?

Die Angehörigen stellen Fotos der Opfer vor den Gerichtssaal. Sie wollen den Toten ein Gesicht geben.
Der angeklagte am Freitag im Kieler Landgericht.
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An diesem Prozesstag in Kiel geht es auch darum, warum Henrik B. so fahrlässig gehandelt haben könnte, denn Henrik B. trifft an dem verhängnisvollen Abend im Januar anscheinend lauter Fehlentscheidungen: Er nimmt Drogen, er steigt ohne Fahrerlaubnis in ein Auto und fährt mit überhöhter Geschwindigkeit durch Neumünster, bis er die Kontrolle verliert und in die Fußgängergruppe fährt. Zum Tatgeschehen äußert sich der Angeklagte aber nicht.

Gutachter: Es könnte noch mal passieren

"Wenn er nicht mit einer Therapie behandelt wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass etwas ähnliches noch einmal passiert“, erklärt dazu der Sachverständige am Freitag im Prozess. Er durfte den Angeklagten zweimal treffen. Er zeigt ein düsteres Persönlichkeitsbild des Angeklagten auf: „Er hat eine schwere Persönlichkeitsstörung. Er hat seelische Probleme, die er nur mit einer Therapie lösen kann." Laut Sachverständigen habe der zurzeit als Altenpfleger arbeitende Henrik B. seine Ausbildung abgebrochen, ist oft bei seinen Eltern ein- und ausgezogen, hat mit Drogen gedealt und selbst welche genommen. „Doch nachdem er angefangen hat, Kokain zu rauchen, begann sein sozialer Abstieg", erklärt der Gutachter. Der Angeklagte wolle nun eine Therapie machen.

Henrik B: "Ich habe sie getötet!"

Im Plädoyer des Staatsanwalts fasst dieser den Tatablauf zusammen und erwähnt, dass Zeugen den Angeklagten nach der Tat als verzweifelt und überfordert mit der Situation beschreiben, er habe gerufen: „Ich habe sie getötet!“ Allerdings soll er nach seiner Vernehmung bei der Polizei mit einem Taxi zum Tatort zurückgefahren sein. Der Staatsanwalt vermutet, er habe Drogen zuvor irgendwo im Auto versteckt, die habe er dann aus dem Versteck geholt und entsorgt.

Angehörige weinend im Gerichtssaal

Am Ende fordert der Staatsanwalt eine Haftstrafe von 4 Jahren und neun Monaten und eine fünfjährige Sperre der Fahrerlaubnis für Henrik B. Während des Plädoyers fließen bei den Angehörigen Tränen und der Staatsanwalt wendet sich auch direkt an sie: "Ich bewundere Sie für Ihre Kraft, an jedem Prozesstag hierher zu kommen und sich alles nochmal vor Augen zu führen. Es ist einfach nur tragisch." Voraussichtlich wird das Urteil am 21. Dezember fallen.